‚Was soll das?‘ fragte Koron ihn später, ‚Wir sollen uns zum letzten Mal gesehen haben? Spinnst Du?‘ Sie saßen im Goldenen Bug, an einem Tisch am Rand des Schankraums und hatten den Raum gut im Blick. Vielleicht ein Dutzend anderer Gäste war anwesend und saß alleine, oder in Gruppen zu zwei oder drei Personen im Raum verteilt. Es war ruhig, abgesehen von einem gepflegten Gemurmel. Der auffrischende Wind vom Meer her heulte leise und ließ die Fensterläden klappern. Ein Geräusch, das kein echter Sorengarder noch wahrnahm, so selbstverständlich waren Wind, Regen und ihre Begleitgeräusche.
Maelgwn gab seinem Freund ein Zeichen zu warten, bis der Wirt, der gerade an den Tisch trat, ihnen zwei schäumende Krüge mit dunklem Bier hingestellt hatte. Der Mann hielt die Krüge fest und blickte von Maelgwn zu Koron, und zurück. ‚Verzeiht, dass ich frage, die jungen Herren, aber …‘ Der Blick des Mannes zeigte deutlich, dass er in seinem Haus selten Zimmermannsgesellen oder junge Bewaffnete empfing und seine Miene hellte sich erst auf, als Maelgwn ihm eine große, kupferne Münze hinschob. Korons Augenbrauen waren wortlos nach oben gewandert, als der Wirt die Münze einsteckte, wesentlich freundlicher jetzt, und sie an ihrem Tisch alleine ließ.
‚Und warum wirfst Du plötzlich mit Geld um Dich?‘ Seine Stimme war angespannt. Kein Wunder. Seit Wochen hatten sie sich kaum gesehen und noch weniger miteinander geredet, aber die missliche Lage, in der sich Maelgwn befand, war nur zu offensichtlich. Und es zehrte an Koron.
Maelgwn lehnte sich zurück und lächelte. Bald war es vorbei. Armer, guter Koron! Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Maelgwn holte tief Luft:
‚Ich habe beschlossen, die letzten Tage meines Lebens … Oder, von mir aus auch, die letzten freien Tage meines Lebens weder hungrig noch kalt zu verbringen. Und jetzt wo wir hier sind auch nicht zwingend nüchtern.‘ Er hob seinen Krug und prostete Koron zu, der sichtlich unwillig nach seinem eigenen Bier griff. Maelgwn trank. Koron nicht.
‚Das kann nicht Dein Ernst sein! Du gibst auf? Und deshalb Deine gute Laune? Bist Du wahnsinnig?‘ blaffte Koron ihn fassungslos an.
‚Ich kann die Stadt nicht verlassen, weißt Du.‘ versuchte Maelgwn sich zu erklären, ‚Keine Erfahrung in der Welt da draußen. Ich kann den Kredit nicht zurückzahlen …‘ Er schürzte die Lippen, ‚Ich wüsste nicht, wie. Ich kann auch nicht kämpfen und …‘ Er lachte bitter, ’selbst wenn ich es könnte. Wer bin ich, mich mit einem hohen und einflussreichen Herrn anzulegen? Noch dazu, da Arek im Recht ist! Ich habe Geld geliehen und er darf es zurückfordern, oder einen Ausgleich dafür.‘
Maelgwn nahm noch einen Schluck von dem Bier und konnte schon die erste Wirkung spüren. Ärgerlich, dachte er. Es machte ihn nicht ruhiger, sondern im Gegenteil: Es kratzte an seiner Fassade. Unruhig rutschte er auf der Bank herum und befingerte sein Bier. Er sah zu Koron hinüber und fand ihn in seinen Krug starrend vor, das Bier unangetastet.
Er betrachtete seinen alten Freund. Das Handwerk, das der junge Mann vor etwas mehr als drei Jahren zu lernen begonnen hatte, hatte schon seine Spuren bei Koron hinterlassen. Die Hände trugen Schwielen und kleine, kaum verheilte Verletzungen. Das Gesicht war rauer geworden vom Wind und dem Regen, dem er ständig ausgesetzt war. Das kantige Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn hatte seinen jugendlichen Charme verloren, aber etwas reiferem Platz gemacht und Maelgwn lächelte wehmütig. Der junge Zimmermann war auf dem besten Weg, ein gestandener und respektabler Mann zu werden. Sie waren gleich alt, doch im Gegensatz zu seinem Freund war Maelgwns Leben so gut wie zuende.
Er löste seinen Blick, blinzelte die Tränen weg, und ließ ihn stattdessen durch den Gastraum schweifen. Die anderen Gäste waren mit sich selbst beschäftigt und nur der Gastwirt sah kurz zu ihnen herüber, aber mehr aus professioneller Aufmerksamkeit, denn Neugierde. Eine dunkle Gestalt zog Maelgwns Blick an. Der Mann war ein wahrer Riese! Vermutlich mehr als zwei Schritte groß saß er alleine an einem Tisch, eine Platte mit Fleisch und zwei Krüge Bier vor sich, der eine voll, der andere scheinbar fast leer. Gerade fischte der Mann mit einem spitzen Dolch eine Scheibe Fleisch von dem Brett und Maelgwn war, als würde er kurz zu ihm und Koron herübersehen, da widmete sich der Mann schon wieder seinem Essen.
Es war Maelgwn, als hätte er den Mann schon einmal gesehen …
‚Ich würde für Dich kämpfen.‘ riss ihn Korons Stimme aus seinen Gedanken und er erschrak.
‚Das ist nicht notwendig!‘, beeilte er sich zu sagen, doch der andere hob die Hand und gebot ihm Schweigen.
Jetzt trank Koron doch einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum vom Mund. Seine Stimme war leise, nachdenklich. Maelgwn kannte ihn in allen seinen Stimmungen, doch so hatte er ihn noch nie gehört.
‚Ich möchte kein Zimmermann sein.‘ fuhr Koron fort. ‚Ich möchte ein Schwert ergreifen. Ich habe überlegt, mich einer Gruppe Soldburschen anzuschließen. Wer weiß, vielleicht mache ich mein Glück. Ich möchte nicht hier in der Stadt alt werden und verrotten!‘ Er schwieg und Maelgwn war klug genug, seine Gedanken nicht zu unterbrechen.
Der andere atmete tief durch und vergrub das Gesicht in den Händen, so saß er eine Weile da und Maelgwn trank noch einen Schluck.
Als Koron aufsah, war sein Gesicht ausdruckslos, seine Augen gerötet.
‚Aber wo sollen wir anfangen? Arek töten, und dann? Die Stadtwache hängt uns auf, schneller als wir schauen können.‘
‚Moment mal!‘ wandte Maelgwn ein, ‚Davon Arek zu töten war keine Rede …‘
‚Und doch hast Du Dir ein Sax gekauft.‘ unterbrach Koron ihn, ‚Ausgerechnet Du!‘ Er gestikulierte ziellos. ‚Du kannst mir links, wie mit rechts, schreiben, aber wenn Du die Federkiele schärfst, müsste man schon um Dein Leben bangen!‘
Maelgwn wiegte nur den Kopf ob dieser Kritik. Sein Freund hatte ja nicht ganz Unrecht.
‚Ich bin ja selbst kein Krieger. Woher auch? Raufereien halt.‘ Koron warf ihm einen schnellen Seitenblick zu und Maelgwn nickte. Oh ja! Ein jüngerer, wilderer und grausamerer Koron hatte ihm, vor vielen Jahren, die Schulzeit zur Hölle gemacht. Wie lange das schon her war! Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Gut, dass damals niemand gestorben war.
‚Nein, Koron. Zu gesuchten Verbrechern – zu Mördern! – zu werden …‘ er schüttelte den Kopf, ‚Vor allem nicht …‘ und er versuchte seine Stimme streng klingen zu lassen, ‚Wenn wir aus meinem Problem damit ein Problem für uns beide machen! Es ist vorbei für mich, mein Freund.‘ und seine Stimme brach fast.
Kalt spürte er, wie Angst und Bitterkeit ihn übermannten und zwang sich zur Ruhe. Es wirkte.
‚Du machst das sehr gut.‘ hörte er die ruhige Stimme Gariars in seinen Gedanken und wunderte sich zum wiederholten Male, warum er ihn in den letzten Tagen so oft gehört hatte. Vor allem so deutlich. Es musste die Angst sein, die Furcht, die seinem Verstand Streiche spielte.
‚Selbst wenn: Solange es Dir nutzt, ist es ein guter Streich, den Dein Verstand Dir spielt, nicht wahr?‘ lächelte die Stimme und Maelgwn nickte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der riesenhafte Mann auf der anderen Seite des Raumes den Kopf gehoben hatte und ihn ansah, Fassungslosigkeit auf dem zerfurchten Gesicht und die grauen Augenbrauen erhoben. Maelgwn erstarrte vor Furcht, ohne zu wissen warum, doch der große Mann wandte den Blick wieder ab, trank noch einen Schluck Bier, warf einige kleine Münzen auf den Tisch und ging. Ein kalter Windstoß ließ die Kerzen flackern. Koron hatte von all dem nichts mitbekommen.
Gerade wollte Maelgwn seinem Freund von dieser beunruhigenden Beobachtung erzählen, da ging die Tür zum Schankraum erneut auf und ein Mädchen in verschlissenem Gewand trat herein. Sie schüttelte sich den Regen aus den kurzen, schwarzen Haaren und richtete ihre dunklen Augen auf Maelgwn. Sie konnte kaum älter als zwölf Jahre alt sein, doch sie verlor kein Wort, sondern knallte einen Brief vor Maelgwn auf die Tischplatte, zog den Kopf zwischen die Schultern und verschwand wieder in den Regen hinaus.
Beide starrten ihr hinterher. Der Brief trug das Siegel der Inquisition.
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