ROHFASSUNG – NICHT ÜBERARBEITET
Eine Kurzgeschichte vom Kontinent Bansa
Zwei Jahre waren vergangen seit dem „Massaker“ im Klassenzimmer und vieles hatte sich verändert. Ich war immer noch klein und sehr in meine Bücher vertieft, doch mein Leben war nun von Grund auf anders. Hauptsächlich lag das an der Aufmerksamkeit eines einzelnen Mannes: Gariar von Duppenhem.
Ich erwarte nicht, dass dieser Name bei auch nur einem meiner geneigten Leser einen hohen Wiedererkennungswert hat, denn Gariar war ein verschlossener Mann und seiner tiefsten Leidenschaft so treu, dass er außerhalb der Mauern des Klosters von Sorengard kaum zu Gesicht zu bekommen war. Und naheliegender Weise erlangte er auf diese Weise auch kaum Bekanntschaft. Die einzige Möglichkeit, mit seinem Namen in Berührung gekommen zu sein, wäre durch seine einzige Publikation „Das Wesen des Antiquariats – Eine Bestandsaufnahme der Praxis zur Erhaltung alter Literatur“ – klingt das vielleicht bekannt? Nicht? Kaum verwunderlich.
Für mich ist und bleibt Gariar einer der wichtigsten Menschen meines Lebens. So wichtig, dass er vielleicht sogar Morion an Bedeutung für mein Leben nahekommt. Aber wir wollen nicht von Morion reden. Noch nicht.
Die Zeit wird kommen.
Gariar nahm mich wenige Monate nach dem Massaker unter seine Fittiche, als die Ordensschwestern erkannten, dass ich in der Klasse nicht verweilt werden sollte. Die Erkenntnis kam spät, und zu diesem Zeitpunkt war sie auch unzutreffend. Koron und ich hatten uns im Krankenstand versöhnt, kaum zu glauben, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich nicht nur unser Wesen, sondern unsere gesamten Weltanschauungen und Lebenswirklichkeiten waren. Aber es passte. Wie die Faust aufs Auge, auch wenn dieses Bild, vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Geschichte, leicht belastet sein mag.
Um meine Sicherheit oder Gesundheit musste ich mich nicht mehr sorgen. Dabei war es kein schlichter Respekt vor meinem plötzlich furchteinflößenden Ruf als tollwütiger Schlächter, den ich neuerdings hatte, der mich meinem neuen Freund näherbrachte. Nein. Koron war zu klug, um dieser Legende, auch wenn er sie in gewisser Weise am eigenen Leib erfahren hatte, viel Beachtung zu schenken. Er war stärker als ich, das war er schon immer und würde es immer sein. Nein, es war die Tatsache, dass der kaltblütige Mob der Klasse ihn fast zum Mörder gemacht hatte, die ihn ein ums andere Mal auf der Krankenstation erwachen ließ, in Schweiß gebadet und verstört.
Er machte mich zu einem Ebenbürtigen, weil er auch hier klug und weitsichtig handelte. Er wollte nicht noch einmal zum Werkzeug anderer werden und er verhinderte es, indem er sein Schicksal selbst in die Hand nahm.
Es brauchte ein paar harte Worte und ähnlich harte Fäuste, um auch seine alten Kameraden zu überzeugen, aber am Ende hatte er seinen Einfluss in der Klasse so weit gefestigt, dass niemand es mehr wagte, ihn bei einer Entscheidung zu übergehen. Und er hatte dem Quälen von Schächern ein Ende bereitet. Eine faszinierende Entwicklung, selbst wenn man all diese Jahre später darüber nachdenkt.
Ich selbst wurde mit den Ereignissen des „Massakers“ zu einer Schreckensgestalt, man kann es nicht anders beschreiben. Man fürchtete mich und man fürchtete, dass der heilige Zorn wieder über mich kommen könnte, und so wäre ich wiederum sehr einsam gewesen, wäre Koron nicht gewesen.
Unsere Freundschaft währte lange. Das mag dem ein oder anderen bekannt sein, auch wenn unsere gemeinsame Zeit in der Klasse ein rasches Ende fand.
Denn Gariar nahm mich zu sich und veränderte mein Leben aufs Neue.
Seht, Gariar war der Bibliothekar des Klosters. Und damit ein Mann in einem Haus von Ordensschwestern. Dieser Umstand wäre verdächtig gewesen, wäre es nicht sein hohes Ansehen in den Kreisen des Ordens gewesen, die ihm eine faktische Immunität einbrachten. Woher sein hoher Stand innerhalb des Ordens kam, fand ich erst später heraus.
Er war ein Gelehrter und ein Bücherwurm und er lebte in seiner Bibliothek wie ein Einsiedler. Er mied die Menschen und man konnte leicht vergessen, dass es ihn gab, bis man die Bibliothek betrat, weil man ein drängendes Bedürfnis hatte, die Schriften zu studieren, oder weil man von einer ranghöheren Person dazu verdonnert wurde.
Gariar war immer dort. Staubig wie die Bücher, die ihn umgaben, gab er Rat und es gab keinen Winkel in der Bibliothek, kein Pergament, keinen Foliant und keinen Brief, der ihm unbekannt war. Und wurde er nicht mehr gebraucht, dann verschwand er wieder in den langen Gängen.
Er wurde mein Mentor, und es hätte eine quälende Zeit sein können, wenn ich ein normaler Junge gewesen wäre. So aber war es mir recht, dass ich manchmal ganze Tage kein Wort zu sagen brauchte: Gariar brachte Lektüre oder wies auf eine Kiste mit Schriftstücken aller Art und ließ mich damit allein, während ich las, sortierte, archivierte. Es war eine friedliche Zeit.
Dem Unterricht musste ich nicht mehr beiwohnen. Man hatte stillschweigend oder zumindest ohne mich einzuweihen beschlossen, dass es an der Zeit war, mich in eine Lehre zu geben. Das Lesen beherrschte ich schon damals wie nur wenige andere Menschen im Kloster, und auch die ersten Grundsteine fremder Sprachen waren durch meine Lektüre gelegt worden. Auch frühes Bakarisch und Takalisch waren mir vom Schriftbild her vertraut, auch wenn ich diese Sprachen nicht lesen konnte, und das ein oder andere Wort dieser Sprachen, das seinen Weg in die Ordensliteratur gefunden hatte, kannte ich nach seinem Sinn.
Gariar sprach nur selten, doch er war ein guter Lehrer, wenn er es denn tat. Sein Verständnis für Literatur war so tiefgehend, dass es ihm leicht fiel, die Essenz eines Textes zu ergründen und sie so zu erklären, dass ein elfjähriger Junge sie verstehen konnte. Er leitete mich bei meiner Lektüre an und vernachlässigte auch meine handwerkliche Ausbildung nicht. Viele Hundert Stunden verbrachte ich damit, Abschriften anzufertigen. Mein Gesellenstück, das ich im Alter von 15 Jahren anfertigte, war eine Abschrift seines eigenen Werkes „Das Wesen des Antiquariats“, das ich ihm in Kalbsleder gebunden und mit bunten Illustrationen und Initialen geschmückt an einem kalten Wintertag, kurz vor der Wintersonnwende, vorlegte. Er wusste nicht, dass ich an diesem Stück gearbeitet hatte, und er weinte vor Rührung, hinter vorgehaltener Hand aber ohne Scham, als er es besah. Wenige Tage später überreichte er mir meinen Gesellenbrief. Obwohl meine Lehre damit beendet war, verloren wir nie ein Wort darüber und ich blieb an seiner Seite, denn ich liebte ihn wie einen Vater und ich schuldete es ihm. Ich blieb noch weitere drei Jahre im Kloster, bis ihn eine Lungenentzündung ereilte, die sein Tod sein würde.
Als Gariar von Duppenhem auf dem Klosterfriedhof beigesetzt wurde, erkannte man, dass ich, ein erwachsener, junger Mann, in einem Frauenkloster fehl am Platz war, und empfahl mich dem Ordenskapitel unter der Leitung von Ordensmeister Samuel da Parke als Sekretär. Da Parke war ein praktisch veranlagter, strenger Mann Ende fünfzig, und er stand dem Kapitel von Garenstrev, der Provinz, in der meine Heimatstadt Sorengard gelegen war, seit mehr als acht Jahren vor. Er hatte Verwendung für einen Schreiber und Schriftgelehrten, doch ich verspürte nicht den Drang, mich in die Fremde zu begeben, und schlug das Angebot aus. Ich nahm meinen Abschied von den Belangen des Klosters, kehrte dem Orden den Rücken und beging einen der größeren Fehler meines Lebens. Doch nicht in dieser Sache.
Dem Orden den Rücken kehren? Ich kann die unausgesprochene Frage erahnen, und so lasst uns gleich hier und jetzt darüber reden.
Damals empfand ich dem Orden gegenüber nichts als Dankbarkeit! Er hatte mich aufgenommen, großgezogen und ausgebildet. Ich hatte einen trockenen Ort zum Schlafen gehabt und etwas zu essen. Es war nicht immer viel, manchmal nicht einmal genug, aber die Schwestern kümmerten sich um uns, so gut sie es konnten. Die Härten und Schwierigkeiten, die ich in meinen jungen Jahren erleben musste, hatten ihren Ursprung in der menschlichen Natur und einer verhängnisvollen Gruppendynamik. Die Schwestern hatten damit nichts zu tun.
So war es dann auch für alle eine große Überraschung, dass ich mich entschloss, eigene Wege zu gehen.
Dass ich Jahre später meinen Teil zum Untergang des Ordens beitragen würde und mehr noch als das dem Neuen Orden vorstehen würde, zeichnete sich nicht ab – Wie auch? Die Entwicklungen, die zu diesem die Reiche erschütternden Umbruch führen sollten, waren nicht absehbar, ihre Ursachen und Gründe gut verborgen.
Ich verließ also das Kloster und stand damit auf eigenen Beinen. Eine kleine Summe Geld hatte ich von Gariar geerbt, der sonst keine lebenden Verwandten hatte oder zumindest nie erwähnte, und so fiel mir damals sein kleiner Nachlass zu. Er war ein kümmerlicher Geldbetrag, kaum ein Notgroschen, denn der Orden hatte für Gariar gesorgt und es hatte für ihn keine Notwendigkeit gegeben, Geld zu besitzen. Wie ohnehin für niemanden, der sein Leben im Orden verbrachte.
Eingeschüchtert und kaum in der Lage, alleine zurechtzukommen, aber fest entschlossen, auf dieser Welt meinen Fußabdruck zu hinterlassen, tat ich das Einzige, das mir in den Sinn kam. Etwas, das von allen Ideen, die ein junger Mann haben konnte, am wenigsten dazu geeignet sein mochte, sich selbst zu verewigen: Ich gründete ein Antiquariat.
Noch heute muss ich lächeln, wenn ich mir die Gefühle in Erinnerung rufe, die mich zu dieser Entscheidung bewogen. So idealistisch war ich, so sehr liebte ich Bücher, und so sehr fühlte ich mich dem Gedenken an meinen Mentor Gariar verpflichtet, dass mir nicht eine Sekunde in den Sinn kam, dass ein Antiquariat im sturmgepeitschten, rauen Sorengard keine echte Daseinsberechtigung hatte. Es lief am Anfang ganz gut, das bildete ich mir zumindest ein, denn ein freundlicher Mann aus einer der dunkleren, hinter dem Marktplatz gelegenen Gassen gewährte mir einen Kredit. Es machte mich überhaupt nicht stutzig, dass dieser freundliche Herr, dessen Name mir zwischenzeitlich entglitten ist, immer mindestens zwei große, breit gebaute und mit anschaulichen Narben geschmückte Individuen in seiner Nähe hatte.
Diese Individuen sollte ich dementsprechend auch noch etwas besser kennenlernen.
Ich mietete mich in der Nähe des Hafens – ausgerechnet in der Nähe des Hafens! – in ein kleines, leer stehendes Ladengeschäft ein und begann damit, Bücher zu kaufen.
Es lief toll!
Wenn es etwas gibt, das in einer Stadt, in der Bücher keinen hohen Stellenwert haben, gut funktioniert, dann ist es, Leuten Geld für ihre alten, ungeliebten Bücher zu geben! Es vergingen nur wenige Wochen und mein Laden quoll schier über.
Ich besaß genug Erfahrung im Umgang mit Büchern und allen anderen Schrifterzeugnissen, um zu erkennen, dass das meiste, das ich ankaufte, keinen hohen Wiederverkaufswert hatte, aber ich zuckte mit den Schultern, tat es als Erfahrungsgewinn und vielleicht auch als kleines Glücksspiel ab und machte einfach weiter. Ich schlief übrigens unter einem meiner Tische im hinteren Teil des Ladens.
So kam es, dass ich es schaffte, mein junges Leben sehr früh gegen eine Wand zu fahren. Und beinahe hätte ich dort den weiteren Weg meines Lebens besiegelt, als Schuldsklave eines bösartigen Kredithais, oder schlimmer noch, in einem Folterkeller der Inquisition, was mit dem letzten Einkauf für mein Antiquariat zu tun hatte.
Aber jetzt, liebe Leser, bin ich müde. Ich werde euch sicher nicht zu sehr belasten, wenn ich euch sage, dass diese Andeutungen der späteren Ereignisse erst einmal genügen müssen.
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