Ich sah mich um und ließ meinen Blick über die Regale und Tische gleiten, die sich unter der Last mittelmäßiger, alter Bücher bogen. Ich fühlte mich mit einem Mal leer. Leer und sehr müde. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich so da gesessen hatte, doch es war dunkel, als ich mich besann. Schwerfällig wie ein alter Mann kam ich auf die Füße, die Knie schmerzten und die Füße selbst spürte ich kaum. Ich humpelte gebeugt und stöhnend zu dem Stuhl, den Koron am Morgen frei gemacht hatte und
ließ mich darauf fallen.
Ich trachtete die drei Kisten, doch ich sah durch sie hindurch, meine Gedanken waren zäh und träge. Was sollte ich nur tun?
Als ich meine Beine wieder spürte stand ich auf und verließ den Laden. Im Dunkeln der Nacht ging in an die Hafenmauer, kletterte hinauf und sah hinab in die strudelnden Wasser auf denen sich kaum das spärliche Mondlicht spiegelte. Es war kalt geworden, jetzt, wo die Sonne untergegangen war und ich hatte Gänsehaut. Doch ich fror nicht.
Sollte ich springen? Ich konnte zwar schwimmen, doch ich musste ja nicht. Würde ich ganz still halten, würde ich einfach untergehen und in dem kalten Wasser wäre es vielleicht garnicht so schlimm, zu ertrinken. Irgendwie glaubte ich mir selbst nicht. Aber selbst wenn es schlimm sein sollte, wielange wohl bis ich das Bewusstsein verlor? Ein bisschen Schmerz und ein bisschen Leid und danach einfach Ruhe. Einfach Frieden. War es das nicht wert?
„Ist es nicht.“ hörte ich eine brummige Stimme, die mich sehr an Gariar erinnerte.
Das Wasser rauschte und schäumte und schwankte. Ich stand tief in der Kreditschuld und hatte keine Möglichkeit, das Geld dafür aufzutreiben. Ich hatte einen Laden voll mit Dingen, mit denen ich nichts tun konnte und wenn Koron Recht hatte, dann erwartete mich die Sklaverei. Mein Atem ging flach und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich konnte es genauso gut jetzt gleich beenden.
„Mach dir den Kamin an! Auf ein paar der alten Schinken kannst du verzichten.“, hörte ich wieder die beruhigende Stimme Gariars und ich schloss die Augen. Ich spürte meinen Körper wanken, fühlte, wie der Wind an mir riss und meine Kleidung flattern ließ. Dann öffnete ich die Augen. Und trat von der Kante zurück.
Ich konnte ja morgen immernoch ins Wasser gehen.
Niedergeschlagen wollte ich mir die Gischt, die mich halb durchnässt hatte, aus dem Gesicht wischen und merkte erst da, dass ich immer noch eines der alten Bücher in der Hand hielt. Verwirrt sah ich es an: „Nekromantie in der Folklore“ stand in goldenen Lettern auf einem abgewetzten, uralten Buchdeckel.
Ich widerstand dem plötzlichen Impuls, das Buch ins Meer zu werfen, es zum Sündenbock für meine Angst und meinen Frust zu machen und meinte fast, ein Seufzen der Erleichterung von Gariar zu hören. Ich kletterte von der Mauer und ging langsam und leer wieder zurück in meinen Laden.
Es hatte gut getan, den Laden einmal richtig aufzuheizen. Die alten Bücher brannten wie Zunder! Natürlich reichte das nicht um das alte Gemäuer wirklich durchzuwärmen, aber die Luft wurde wärmer und meine Lage kam mir mit einem Mal nicht mehr vollkommen hoffnungslos vor. Ich grübelte noch eine Weile darüber, wie ich weiter vorgehen sollte, bis mir die Augen zu fielen und ich mich wie jede Nacht unter meinem Schlaftisch zusammenrollte. Das Feuer erlosch irgendwann und der Raum wurde wieder kalt. Trotzdem erwachte ich am nächsten Morgen so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Ich hatte einen Entschluss gefasst und ich spürte, wie mich der Tatendrang und die Hoffnung, dass ich mein Leben wieder in die Hand nehmen könnte, mit neuer Energie erfüllte. Ich nahm den letzten Kanten des mittlerweile steinharten Brotes und knabberte daran, während ich den Laden verließ, um Koron zu suchen.
Ich fand ihn nicht. An der Niederlassung des Steinmetzes, bei dem Koron eine Lehrstelle gefunden hatte und in diesem Jahr seinen Gesellenbrief machen sollte, war niemand anzutreffen und auch die umliegenden Handwerker konnten mir nicht sagen, wo die Steinmetze aktuell arbeiteten.
„Vielleicht sind sie im Steinbruch an den Klippen, oder sie arbeiten wieder im Kloster. Es kann aber auch etwas ganz anderes sein.“, grummelte einer der Tischler auf der anderen Straßenseite, bevor er sich wieder seinem Hobel zuwandte. So kam ich nicht weiter und ich beschloss, meine Vorbereitungen voranzutreiben. Es würde reichen Koron im Laufe der nächsten Tage aufzusuchen. Immerhin wollte ich nicht viel mehr als mich von ihm zu verabschieden.
Ich bog gerade um die letzte Ecke vor meinem Laden, als mir die Umstehenden auffielen, die seltsam angespannt und still auf der Straße standen und in die Richtung meines Ladens starrten. Da, wo gerade ein Büttel der Stadtwache eine große hölzerne Kiste auf einen von Ochsen gezogenen Wagen stemmte. Ich erstarrte kurz und zog mich dann hinter eine kleine Gruppe Hafenarbeiter zurück, die, leise diskutierend, am Rande der Straße standen. Die Kiste, die gerade auf den Wagen geladen worden war, war eine von denen, die ich den Tag zuvor aus dem Kloster mitgenommen hatte. Und gerade kam eine weitere, identische Kiste in Sicht, ebenfalls von einem grimmigen Büttel getragen. Diesem folgte, dicht auf dem Fuß, ein hagerer Mann mit Tonsur und einer hellgrauen Kutte, der eine grobe, rote Kordel als Gürtel diente. Der Mann in der Kutte war unbewaffnet und er trug natürlich keine Kiste. Das wäre unter der Würde eines Inquisitors gewesen.
Ich beobachtete die Vorgänge aus dem Schutz der Schaulustigen, doch die Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden war gering: fast keiner der Männer beachtete die Umstehenden und als die letzte der drei Kisten auf dem Wagen verstaut war übernahm einer der Büttel die Zügel eines der Ochsen und führte den Wagen in Richtung Stadtmitte. Die anderen Männer folgten in einer losen Prozession und erst jetzt begann der ein oder andere, die Menge prüfend zu mustern. Der kleine Tross kam nicht in meine Richtung, weshalb ich keine Notwendigkeit sah mich zu verstecken, doch mein Mund war trocken als ich mich zurückzog, bevor mich noch jemand erkannte und bog in eine Seitengasse ab.
Ich ließ eine gute Weile verstreichen, bevor ich mich auf Umwegen und über den Hinterhof meinem Laden näherte. Mit ein paar schnellen Schritten überwand ich das kurze Stück von Häuserecke zum Eingang und fand diesen aufgebrochen vor. Ich schlüpfte hinein. Drinnen lauschte ich zunächst, auch wenn ich nicht wusste, worauf. Ich war mir recht sicher, dass mich niemand weiter beachtet hatte, aber ich wollte mein Glück nicht herausfordern.
Mir war vollkommen schleierhaft, was ein Inquisitor in meinem Laden zu suchen hatte, das heißt abgesehen von den Kisten mit Büchern, die mir Delissa offenbar doch nicht so ohne weiteres hätte schenken dürfen. Meine Probleme häuften sich!
Ich war selbst überrascht, wie wenig mich diese Entwicklung beunruhigte.
Auf der anderen Seite, wie verzweifelt sollte ich denn noch werden?
Methodisch ging ich einmal im Kreis durch meinen Laden und packte für eine Reise ohne Wiederkehr. Einen dicken, wollenen Mantel warf ich mir direkt über die Schultern und alles, was mir nützlich erschien, kam in eine leinene Umhängetasche: ein kleines Messer, ein Geldbeutel mit den Resten meines Kredits und diverse andere Kleinigkeiten. Fast kam ich mir wie ein Dieb vor, denn alle diese Dinge hatte ich mit Geld gekauft, das mir nicht gehörte. Ganz davon abgesehen, dass ich ja auch das Geld mitnahm, das mir genau genommen nicht gehörte, aber wenn ich diesen Gedanken zu Ende führte, könnte ich mich auch direkt selbst in die Schuldsklaverei verkaufen.
Ich warf den Beutel über meine Schulter, sah mich noch einmal um und wollte gerade den Laden verlassen, als mein Blick auf ein Buch fiel und ich erstarrte. Es war das Buch, das ich am Tag zuvor mit an das Hafenbecken genommen hatte. Eines der Bücher, wegen denen die Inquisition meinen Laden aufgebrochen hatte.
Ich wollte keine Zeit mehr verschwenden, doch irgendetwas an diesem Buch… Ich griff danach, öffnete es und etwas Metallenes an einer Kette fiel heraus und auf den Boden.
Mit offenem Mund betrachtete ich das Buch, in das jemand mit einem scharfen Messer einen Hohlraum geschnitten hatte. Das Medaillon, denn ein solches lag nun vor meinen Füßen, war in diesem Hohlraum versteckt gewesen.
„Nimm es mit!“ hörte ich leise die Stimme von Gariar und ich hob es auf und verstaute es in meinem Beutel. Dann warf ich einen schnellen Blick durch den Türspalt, sah nichts Ungewöhnliches und trat schnell durch die Tür und um das Hauseck zurück in die Gasse hinter dem Haus.
Ich drehte das Medaillon in meinen Händen. Es war aus Kupfer oder einem ähnlichen Metall denn es glänzte rötlich. Dann fiel mir ein, dass altes Kupfer, und das Medaillon erschien mir außerordentlich alt, eine grünliche Patina entwickelte, das hatte ich irgendwann irgendwo gelesen und war wieder so klug wie davor. Kein Kupfer also. Es sah wie Ranken aus, die sich um einander schlingend und verwindend ein kleines Oval bildeten und im Zentrum dieses Ovals ruhte, in eine Art Bernstein eingebettet ein kleines Stück Knochen. Zumindest vermutete ich, dass es ein Knochen war. Von der Größe und Form vielleicht ein Fingerknochen oder einer der kleinen Knochen aus dem Mittelfuß. Nicht, dass ich ein Feldscher oder Medicus war, ich hatte bloß ein paar Mal Abbildungen in Büchern studiert.
„Ich gebe dir zwei Silberstücke, weil es ein hübsches Kleinod aus Kupfer ist, aber den Stein in der Mitte muss man ersetzen. Sowas kann ich hier nicht verkaufen! Also überleg es dir! Wenn es ein Familienerbstück ist, würde ich es an deiner Stelle lieber behalten, du wirst nicht viel Geld dafür bekommen.“
Ich blinzelte als ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Besitzer des Marktstandes zuwandte, vor dem ich stand. Es war der einzige Stand auf dem Markt der mit Schmuckstücken, zumeist aus Silber, handelte.
„Sicher, dass da nicht mehr zu machen ist?“, fragte ich bittend, „Es ist eine schöne Handwerksarbeit und ich brauche dringend Geld.“
„Auf keinen Fall! Schau, mit den zwei Silberlingen gehe ich schon ein Risiko ein. Der Materialwert von deinem Kupferamulett ist vermutlich geringer als das und wenn ich es nicht verkauft bekomme, muss ich es einschmelzen und mache Verlust.“ Der Standbesitzer sah mich mitleidig an. „Versuch es doch einmal oben im Kloster.“ schlug er vor. „Wenn es eine bekannte Arbeit ist oder vielleicht sogar eine Verbindung zum Orden besteht, dann geben die dir vielleicht etwas mehr dafür. Für mich ist das nichts. Diese Marke,“ er zeigte auf eine kleine Prägung auf der Rückseite des Medaillons, „sagt mir nichts. Nie gesehen. Keine Ahnung!“
Er lächelte entschuldigend.
„Aber das Kloster ist gerade kein guter Ort, fürchte ich! Ziemlich unruhig. Die Inquisition ist wohl mit einer Gesandtschaft dort und hat eine Schwester in Gewahrsam genommen, durchwühlt Kammern und Geschäfte und macht alle unruhig! Wenn du Geschäfte machen willst, solltest du noch ein paar Tage warten, da hört dir gerade eh niemand zu.“
Eine Schwester in Gewahrsam genommen? Delissa? Wegen der Bücher?
Ich nickte dem Mann zum Abschied zu und zog die Kapuze meines Mantels über den Kopf, bevor ich mich eines besseren besah und sie wieder herunternahm. Ohne war ich weniger auffällig.
Ich blickte mich um während ich das Medaillon in meiner Tasche verstaute und mein Blick blieb an einem blassen Mann in vornehmen, aber verschlissenen Kleidern hängen. Hauptsächlich, weil er mich unverwandt anstarrte. Als ihm gewahr wurde, dass ich ihn gesehen hatte, drehte er sich abrupt um und verschwand in einer Seitenstraße, die, wie ich noch aus leidvoller Erfahrung wusste, zum Haus meines Kreditgebers führte! Rasch ging ich in die entgegengesetzte Richtung. Es war Zeit zu handeln. Ich konnte nicht mehr hoffen, mich angemessen von Koron zu verabschieden, ich musste gehen. Jetzt!
Sorengard ist keine große Stadt und so dauerte es nicht lange, bis ich das südliche Tor erreichte. Es war die beste Möglichkeit, Sorengard in Richtung Festland zu verlassen und schnell auf einer Handelsstraße zu sein. Das andere Stadttor Sorengards lag im Westen der Stadt und auf diesem Weg wäre ich an der Küste gereist, nicht ideal sollte es sich ergeben, dass ich mich verbergen musste. Als ich mich dem Tor näherte, konnte ich erkennen, dass eine ungewöhnlich lange Schlange vor dem Tor anstand. Die Wachen kontrollierten irgendwelche Schriftstücke und wiesen viele Reisende, darunter sogar Händler mit großem Tross ab. Überall wurde geschimpft und geflucht. Spannung lag in der Luft. Ich ahnte das Schlimmste, als ich mich etwas abseits der Schlange an eine Mauer lehnte, um die Szenerie zu beobachten. Und ich wurde bestätigt.
„… muss ich jetzt zum Kloster hoch und mir einen Passierschein holen. Ist denen klar, wie sehr ich in Verzug komme? Ich verliere Stunden! Ich wollte heute noch nach Arenhus und jetzt müssen wir irgendwo am Waldrand rasten und…“
Ich hörte nicht weiter zu. Ein Passierschein, um die Stadt zu verlassen? Der einfahrende, reitende und wandernde Verkehr in die Stadt wurde nicht kontrolliert. Eigenartig.
Ich näherte mich einer der Wachen und deutete eine höfliche Verbeugung an.
„Mein Herr wünschte heute noch die Stadt zu verlassen und ich soll für ihn die nötigen Vorkehrungen treffen.“, log ich drauflos, „Und nun erscheint es mir, also würde die Ausfahrt einer gewissen Formalie unterliegen. Könnt ihr mich bitte darüber aufklären?“
Offen sah ich der Stadtwache ins Gesicht. Ich ging nicht davon aus, dass jemand eine Beschreibung von mir herausgegeben hatte. Denn dass dieser ganze Aufwand mit der Durchsuchung meines Ladens und den Bücherkisten zusammenhing, das konnte ich mir zusammenreimen. Die Inquisition kam nicht aus Spaß in eine Stadt und kommandierte die Büttel herum, wenn der Orden nicht ein größeres Ziel verfolgte. Dass aber ich als Person eine Rolle spielen könnte, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich hatte in meinem Leben noch nichts von Bedeutung getan, als dass ich wichtig genug gewesen wäre.
Die Stadtwache sah verwirrt aus. „Eine Formiale?“, echote er verwirrt.
„Eine Formsache!“ versuchte ich ihm zu helfen, „Ein Befehl? Wer die Stadt verlassen darf und wer nicht?“
Das Gesicht des Wächters hellte sich auf. „In der Tat.“, sagte er, „Ein Befehl von Inquisitor Rogarra! Jeder der die Stadt in den nächsten 5 Tagen verlässt braucht einen Passierschein, der im Kloster ausgestellt wird. Offenbar suchen sie nach einem gefährlichen Verbrecher der Ordenseigentum gestohlen hat!“
Ich machte große Augen, wobei ich nicht einmal schauspielern musste und verabschiedete mich mit dem Hinweis, dass ich umgehend zum Kloster gehen wollte. Dann sah ich zu, dass ich mich wieder in Luft auflöste.
In was war ich da nur hinein geraten?
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