Es war schön für ihn, sich wieder im Kloster zu bewegen. So viele Erinnerungen waren mit den Gängen und Winkeln der Anlage verknüpft. Mehrmals begegnete er bekannten Gesichtern, meist freundlich und überrascht, und er wechselte ein paar Worte hier und da. Dann stand er vor der Pforte zur Bibliothek. Von drinnen hörte er Gerumpel und das Klappern von Holz und Metall.
Er spähte durch die Tür und war überrascht, dass der Quell dieses Lärms eine zierliche junge Frau in den Gewändern der Schwesternschaft war. Sie stemmte sich gerade mit ganzem Körpereinsatz gegen eine Holztruhe, die sich offenbar irgendwo verkeilt hatte. Offenbar versuchte sie, die Truhe in einen Nebenraum zu schieben.
‚Ähäm‘, räusperte sich Maelgwn. Keine Reaktion.
‚Entschuldigung, bitte!‘
Der Lärm erstarb. Die Schwester hob den Kopf und sah sich suchend um. Zuletzt blickte sie in Richtung der Tür und zuckte ein zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen kam sie auf ihn zu. ‚Maelgwn?‘
‚Äh, ja!‘ stammelte er, ‚woher …?‘
Sie winkte ab. ‚Ein Mann in der Bibliothek? In einem Kloster der Schwesternschaft?‘
Maelgwn nickte ergeben.
‚Hier bin ich.‘ Er ließ ihren Brief auf einen Tisch fallen. ‚Womit kann ich dienen?‘
‚Ich bin Delissa.‘ stellte sich die kleine Frau vor und strich sich eine braune Locke, die ihr aus der strengen Frisur gerutscht war, hinter das Ohr. ‚Und ich habe ein Problem mit einer Lieferung neuer Bücher.‘ kam sie gleich zum Punkt. ‚Die Bibliothek ist voll und ich weiß nicht weiter.‘ Sie sah sich unzufrieden um und warf dann die Hände in die Luft. Sie war einen Kopf kleiner als Maelgwn und wirkte in der Bibliothek sehr fehl am Platz.
‚Es stimmt ja, ich helfe gerne. Aber die Idee war, den Übergang der Geschäfte hier zu erleichtern.‘ warf er ein. ‚Vor über einem halben Jahr! Und jetzt werde ich gerufen und soll helfen Bücher einzusortieren?‘ Er hob entschuldigend die Hände. ‚Ich helfe natürlich, aber was hat sich geändert?‘
‚Was sich geändert hat?‘ grummelte Delissa, ‚Dass ich jetzt hier bin. Seit einem Monat, und davor was der Posten unbesetzt. Man hat mir auch nicht gesagt, dass es jemanden gibt, der mir helfen kann!‘
Maelgwn sah sich um und bemerkte den Staub, der auf vielen Oberflächen lag.
‚Ich kenne Dich nicht.‘ hob Maelgwn an, ‚Woher kommst du?‘
Delissa verdrehte die Augen und deutete auf die Kiste: ‚Komm. Hilf mir! Reden können wir währenddessen.‘
Es dauerte lange, die vielen Kisten aus einem Abstellraum in der Nähe in die Bibliothek zu bringen und noch einmal so lange, die Bücher zu sichten und zu sortieren. Während dessen erfuhr Maelgwn, dass Delissa als Wanderschwester in Sorengard Halt gemacht hatte. Ihre Wanderung dienste dem Ziel, die verschiedenen großen und kleinen Klöster des Ordens kennenzulernen. Anschließend sollte sie in einer kleineren Niederlassung des Ordens eine leitende Stelle übernehmen, oder alternativ den Auftrag bekommen, ein neues Kloster oder einen Schrein zu gründen.
Sie war nur ein Jahr älter als Maelgwn, seit nunmehr zwei Jahren auf Wanderschaft und hatte bereits die Klöster in Kalm und Altgrund besucht und dort gearbeitet. Beides waren gemischte Köster, mit jeweils einem Flügel für die Ordensbrüder und einen für die Schwestern. Darüber hinaus hatte sie in einem halben Dutzend kleineren Schreinen gelebt, doch die Namen der Dörfer sagten Maelgwn nichts, mit Ausnahme von Lumben, einem Holzfällerdorf, fast schon einer kleinen Stadt. Lumben belieferte seine Heimatstadt über den Fluß Holzbach mit Holz für den Schiffsbau. Maelgwn hasste die Flößer, die oft die Spelunken im Hafenviertel unsicher machten.
Wenn Delissas Zeit in Sorengard zu Ende war, würde sie, als letzten Schritt ihres Weges zur mündigen Oberschwester, ein Jahr in der Ordensfestung in Kolmstein zubringen und unter den Großmeistern des Ordens lernen. Mit Literatur hatte sie sich nur zwangsläufig beschäftigt. In der Bibliothek war sie unglücklich.
Sie waren bei der letzten Kiste angelangt und arbeiteten sich langsam durch den Bestand. Delissa konnte nur wenig beitragen. Hin und wieder hob sie ein Buch und zeigte es Maelgwn. Er besah es sich und schätzte ab, ob das Buch erhaltenswert war oder nicht. Bislang hatte er aber schon mehr golddurchwirkte Buchrücken und Lettern, feines Leder und Seideneinbände in der Hand gehabt als im letzten Jahr seiner Lehre, hier im Kloster.
‚Woher kommen die Bücher?‘, hatte er fasziniert gefragt, doch Delissa wusste es nicht genau.
‚Irgendein Nachlass hier aus der Stadt. Alter Ordensbestand, hat man mir gesagt.‘
‚Ein Ordensbestand, der nicht im Kloster lagert? Komisch.‘ Delissa hatte nur die Schultern gezuckt und weitergearbeitet.
Jetzt fluchte sie leise, während sie versurchte uralten Staub aus einem Wildledereinband zu reiben und hielt das Buch in das Licht einer Kerze. Draußen war es mittlerweile stockdunkel.
‚Und was ist mit dem hier?‘ fragte sie, die Augen zusammengekniffen.
Maelgwn sah zu ihr rüber, während er eine Ausgabe von „Feuer und Schwert“ auf den „Nicht so besonders“-Stapel legte. „Feuer und Schwert“ war eine Sammlung von Kriegsschilderungen und im Kloster bereits vorhanden.
‚Wie heißt es?‘ fragte er müde, mit vom Staub juckenden Augen.
‚Kann ich nicht lesen. Hm … Betrachtungen, oder Beobachtungen… des Immateriellen. Oder so.‘
Maelgwn rieb sich die Augen und überlegte, ob er den Namen kannte. Ihm war, als müsste er ihm etwas sagen.
‚Steht da ein Autor?‘
‚Ja, Noi-rhom irgendwas … von Atte…‘
Maelgwn riss die Augen auf und starrte Delissa an. Er streckte langsam die Hand aus.
‚Darf ich mal?‘
Sie beäugte ihn neugierig und gab ihm das Buch. ‚Ist es besonders?‘
Maelgwn musterte den Einband, der sichtbar alt, aber wenig abgegriffen war und drehte es in seiner Hand. Er schluckte schwer und sah dann Delissa an.
‚Dieses Buch steht auf der schwarzen Liste des Ordens, der Liste der verbotenen Bücher.‘
Er machte Anstalten, es aufzuschlagen, doch ließ die Hand wieder sinken. Die Seiten waren mit Goldlack bestrichen und sahen kostbar und fein aus, aber das war nicht der Grund für sein Zögern.
‚Alle Bücher von Noi-rhom stehen auf der Liste. Sie zu lesen, ach was! Sie nur zu besitzen, ist streng verboten!‘
Delissa wirkte überrascht. ‚Noi-rhom? Noch nie gehört. War er irgendwie wichtig?‘
Maelgwn lachte nervös und sah sich dann schuldbewusst um. Er zischte: ‚Wichtig ist gut! Er ist ein Schrecken, der ganze Königreiche erzittern lässt und er ist vieles, aber nicht tot.‘, er atmete lange aus, während er weiter den Bucheinband betrachtete. ‚Es ist der Untotenkönig aus dem Sumpfland. Die Sümpfe von Rhom?‘ fragte er und sie nickte. ‚Er ist das Grauen, gegen das die Ordensfestung seit Jahrzehnten jeden Tag kämpft und gegen das die Großmeister uns verteidigen.‘
‚Immer und stetig, murmelte Delissa unbewusst und Maelgwn erkannte die Worte einer Litanei des Ordens. Er nickte.
‚Und er ist der Grund, weshalb der Orden seine Ritter und Klosterwachen schon vor Jahren nach Kolmstein berufen hat.‘ Er betrachtete Delissa mit großen Augen.
‚Ich hatte noch nie ein Buch von ihm in der Hand!‘
‚Ein Untotenkönig, der schreibt?‘ fragte Delissa sichtlich zweifelnd, während sie die Kiste weiter durchsuchte. ‚Und was ist mit diesem Namen? Der Untotenkönig heißt Godemorderen. Das weiß doch jedes Kind!‘
‚Ja, Du hast recht. Aber Godemorderen ist, ähm, sowas wie ein Titel. Es heißt der Göttermörder. Noi-rhom Godemorderen, so wird er in den alten Schriftstücken genannt. Irgendwann ist der Vorname dann wohl … verloren gegangen.‘
‚Was ist ein Götter?‘ fragte Delissa, ihre Stirn gefurcht und sah Maelgwn wieder an.
‚Ein Gott, viele Götter. Ein Gott ist so etwas wie ein großer und mächtiger Geist. Andere Kulturen im Süden verehren Götter. Der alte Glaube von hier übrigens auch. Bevor der Orden kam und uns den Glauben an den Großen Geist gebracht hat.‘
Er sah sie an. ‚Wie der Große Geist hier reinpasst, weiß ich aber auch nicht.‘
‚Du hattest doch eine Schulausbildung im Kloster, und hast hier gelernt! Müsstest Du mir die Frage nicht beantworten können?‘
Maelgwn nickt schuldbewusst. ‚Das müsste ich. Aber ich kann es nicht. Der Orden sagt nicht viel, wenn es um die Natur des großen Einen geht. Der Große Geist ist das lenkende Bewusstsein, dass alle Dinge durchdringt, so sagen es die heiligen Schriften.‘
‚Das reicht doch auch.‘ sagte Delissa feierlich und wandte sich wieder dem, Buch zu.
‚Was machen wir jetzt damit? Heute Morgen kam eine Delegation der Inquisition unter Hochinquisitor Rogarra nach Sorengard. Ich glaube sie sind in der Seefestung und erweisen König Somers von Isnir die Ehre, aber sie werden es sich nicht nehmen lassen, dem Kloster einen Besuch abzustatten.‘
‚Gardeburg, nicht Seefestung.‘, murmelte Maelgwn abgelenkt, und dann: ‚Der Hochinquisitor?‘, Maelgwn war erstaunt. ‚Ich habe bisher nur von ihm gehört. Und außerdem: warum wir? Das sind Deine Bücher.‘ und er legte einen Finger ans Kinn, ‚Ich glaube aber, dass es keine gute Idee ist, mit einem der verbotenen Bücher von Noi-rhom herumzulaufen.‘
‚Um es der Inquisition zu übergeben!‘ warf Delissa ein, doch der junge Schriftgelehrte schüttelte den Kopf.
‚Ich habe schon niedere Inquisitoren gesehen, die mit Folter und Hinrichtung gedroht haben, bloß, weil ein Gelehrter den Namen Noi-rhoms kannte.‘
‚Wer war der Gelehrte?‘ wollte Delissa wissen.
‚Gariar, mein Mentor.‘ Maelgwn machte eine weite Geste in die Bibliothek um sie herum. ‚Er hat mich hier ausgebildet und war im Orden sehr geachtet. Ich glaube, dass er damals nur deshalb um eine Bestrafung herum kam.‘ Maelgwns Blick blieb an einem Schreibpult hängen, an dem Gariar gerne gestanden hatte. ‚Er war in jungen Jahren der Schreiber von Hochmeister Resso dem Jüngeren und er kannte viele wichtige Meister des Ordens persönlich.‘ Er zuckte mit den Schultern. ‚Ich glaube, Du solltest das Buch einfach verschwinden lassen.‘
Delissa machte große Augen. ‚Das kann ich nicht! Und selbst wenn. Wenn ich dabei erwischt werde …‘
‚Dann vertrau Dich halt dem Hochinquisitor an.‘ riet Maelgwn, die Achseln zuckend, ‚Vielleicht‘ und er betonte das Wort, ‚klappt es ja.‘
Delissa sah unglücklich aus, wie sie da zusammengesunken saß, eine abgegriffene Ausgabe der „Geisterwelt“ von Okke Rufgard in der Hand und sie tat Maelgwn leid.
Er atmete einmal tief durch und sah, wie sie den Blick hob, um seinem zu begegnen.
‚Oder, ich helfe dir.‘, sagte er, das Buch von Noi-rhom Godemorderen fest in der Hand.
‚Gut gemacht!‘, hörte er eine leise Stimme, die Stimme seines Mentors, in seinen Gedanken.
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