Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors


Er befühlte sein blutendes Knie und versuchte seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Mehr fallend als rennend hatte er sich von der Straße in eine Seitengasse gestürzt, und er war sich sicher, dass man ihn gesehen hatte.
‚Dort vorne, rechts, hinter dem Fass, in einer Gasse, hält sich ein Mann verborgen.‘
Die ruhige, kalte Stimme war für jeden klar zu verstehen. Auch für Maelgwn.
‚Ja, Hochinquisitor!‘
Er hörte dumpfe Schläge, als mehrere Reiter aus den Sätteln sprangen und sich raschelnd über das Pflaster bewegten.
Erschreckt sprang Maelgwn auf und sah sich gehetzt um! Die Gasse hinunter, das war der einzige Weg! Gerade wollte er losrennen, da packte ihn eine Hand am Fußgelenk und er strauchelte.
Voller Schreck starrte er an seinem Bein entlang und sah einen Schatten in einem Kellerabgang. Das Weiß von Augen war im Dunkeln des Abganges nur gerade so zu erkennen. Undeutlich erkannte er eine Gestalt in den Schatten.
‚Schnell!‘ hörte Maelgwn ein Zischen und da die Geräusche der genagelten Stiefel den Eingang zur Gasse fast erreicht hatten, kroch er zurück und ließ sich in den Kellerabgang fallen.
Der Aufschlag war hart, der Keller tiefer als erwartet. Ein Grunzen ertönte. Maelgwn spürte Bewegung unter sich und wurde gewahr, dass er auf einer kleinen menschlichen Gestalt lag.
Er rollte sich zur Seite und richtete sich auf ein Knie auf. Es war stock dunkel. Er sah nichts.
‚Wo soll er sein?‘ hörte Maelgwn eine leise Stimme in der Gasse über ihm und einen lauteren Ruf: ‚Hochinquisitor, hier ist niemand!‘
Maelgwn konnte die Antwort nicht hören, doch es musste eine gegeben haben, denn der Mann verlangte jetzt laut nach einer Fackel. Es war Tag. Eine Fackel würde auf sich warten lassen. Maelgwn starrte ängstlich auf die schmuddelige Luke, durch die er gerade eben gestürzt war.
Wieder zerrte eine Hand an ihm und er konnte diesmal erkennen, dass sie zu einem kleinen Jungen gehörte, keine zehn Jahre alt, der ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht tiefer in den Keller zog.
Maelgwn verkniffen sich die Fragen. Er folgte dem Jungen tiefer in den Keller, wo das Licht noch weniger wurde.
Sie gelangten an eine dunkle Fläche an einer Wand, eingefasst in dunkle Ziegelsteine, und es dauerte eine Weile bis er verstand, dass er auf einen Durchbruch in einen anderen Kellerraum starrte. An der Kellerluke, hinter ihnen, scharrten Stiefel an einer Wand. Der Mann hatte wohl doch keine Geduld, auf eine Fackel zu warten. Er, oder sein Oberer.
Eine grunzende Stimme echote durch das feuchte Gemäuer: ‚Macht schneller!‘
‚Wo soll er denn hin?‘ das war eine andere Stimme, ‚Es ist ein verdammter Keller! Wir könnten einfach hier warten bis er Hunger bekommt und rauskommt, was denkt denn ihr?‘
Die Stimme kam Maelgwn vage bekannt vor und vor seinem inneren Auge sah er Gerhard, den Wachmann von seinem abendlichen Besuch im Kloster.
‚Sie werden entkommen!‘ blaffte der Erste zurück, ‚Der Kerl hat Hilfe!‘
Als Maelgwn sich hinter dem Jungen durch den Durchbruch duckte und sie sich durch weitere Kellerräume schlängelten, verklangen die Stimmen hinter ihnen.
‚Wer bist du?‘ flüsterte Maelgwn, doch der vor ihm laufende Junge bedeutete ihm ruhig zu sein und kauerte sich hin. Schritte und das Gemurmel von Stimmen erklangen hinter ihnen. Man hatte die Jagd noch nicht aufgegeben.
Es war jetzt so dunkel, das Maelgwn kaum drei Schritte weit sehen konnte. Hin und wieder fiel ein diffuser Lichtstrahl durch eine Ritze im Boden über ihnen, oder durch einen Lichtschacht, aber dieses Licht war schwach, denn draußen war es bewölkt gewesen.
Sie erreichten einen weiteren Durchbruch, dieser so schmal, dass Maelgwn ausatmen musste, um hindurch zu passen. Erst jetzt schien sich sein Führer ein wenig zu entspannen.
Dann ertönte ein Poltern und das Krachen von fallenden Steinen – Jemand schlug die Wand ein! – und sie huschten weiter und immer weiter.
Schmutzig und zerschrammt, das Gesicht voller Spinnenweben und mit vom Staub brennenden Augen erreichten sie eine Treppe und Maelgwns Herz machte einen Satz. Zwei Gestalten kauerten dort. Erst als sie sich aufrichteten wurde ihm bewusst, dass es Kinder waren.
‚Wer ists?‘, fragte eines der beiden, ein Junge, kaum älter als sein Führer. Der Kleine trug ein rostiges Messer lässig in der Hand, aber seine Schultern zeigten Anspannung. Dann trat das Mädchen neben ihm nach vorne.
‚Qirk!‘
Sie hielt inne und lauschte.
‚Ist euch jemand gefolgt?‘
‚Ja!‘, die Stimme seines jungen Führers war kratzig und rau vor Schmerzen, ‚Aber wir sin‘ sie losgeworden!‘
‚Bist du verletzt?‘ Das Mädchen riss die Augen auf. Sie streifte Maelgwn mit ihrem Blick und sah dann wieder Qirk an, der schimpfte:
‚Der da ist auf mich draufgefallen!“
Bevor sie weitersprechen konnten, fiel ein Schatten den Treppenaufgang hinunter. Qirk, und die beiden wachestehenden Kinder zogen die Köpfe zwischen die Schultern.
‚Du solltest ihn doch nur beobachten, Qirk!‘
Sein kleiner Retter und die Wachestehenden entspannten sich.
‚Es ging nicht anders, Tromme!‘ verteidigte sich der Kleine, ‚Der Inquisitor war da und hätte ihn fast geschnappt!‘
‚Der Inquisitor? Was hat der da mit dem Orden zu schaffen?‘
Niemand antwortete, und auch Maelgwn hielt vorsichtshalber den Mund.
‚Bring ihn mal hoch. Bringt ja alles nix!‘ sagte Tromme, und Qirk bedeutete Maelgwn, voranzugehen. Hinaus aus den Kellern.

Es hatte noch nicht begonnen zu dämmern, als der Straßenjunge Qirk Maelgwn in den Keller am Kloster gezogen hatte, aber nun war es dunkel. Überrascht sah Maelgwn sich in der Dunkelheit um und hatte Schwierigkeiten, nicht alle paar Schritte zu stolpern. Mit staksenden Schritten bewegten sie sich durch eine wilde Ansammlung von notdürftigen Zelten, Unrat und Müll. Es gab keinen erkennbaren Weg. Und es stank, trotz der Kälte. Im Sommer musste es hier unerträglich sein. Er konnte andere Personen hören, vermutlich ebenfalls Kinder, aber er sah niemanden. Husten und leises Schluchzen begleitete sie auf ihrem Weg.
Den beiden Straßenjungen bereiteten die Umstände und die Dunkelheit keinerlei Schwierigkeiten. Wie lange lebten sie schon hier? So jung wie sie waren, fast ihr ganzes Leben? Sie befanden sich in einem großen Innenhof, umschlossen von Gebäuden, wobei die meisten der Fenster, die Maelgwn sehen konnte, dunkel waren. Bloß ein einzelnes Fenster neben einer Tür, am Kopfe einer kurzen Treppe, war blass erleuchtet.
Sie erreichten ein etwas größeres Zelt und der ältere Junge, Tromme, duckte sich durch den Eingang. Nirgends brannte ein Feuer und es war furchtbar kalt, jetzt, wo die Sonne untergegangen war.
Im Zelt war es noch dunkler. Aber etwas wärmer.
Tromme nahm sich eine schmutzige Decke, die auf einem kleinen, schiefen Holzkistchen gelegen hatte, wickelte sie um seine Schultern und setzte sich auf dasselbe Kästchen. Selbst in der Dunkelheit konnte Maelgwn erkennen, dass der Junge ausgezehrt und krank aussah. Als niemand etwas sagte, hielt es Maelgwn nicht mehr aus: ‚Warum habt ihr mir geholfen?‘
Er spürte Augen auf sich ruhen. Viele Augen.
Er hatte angenommen, dass er hier sicher war. Aber war er das wirklich?
Rascheln um ihn herum verriet die Unruhe der Anwesenden, wobei Maelgwn unmöglich sagen konnte, wie viele es waren und er schluckte.
Tromme ließ sich Zeit.
‚Das …‘ hob der Angesprochene heiser an, ‚… ist eine gute Frage. Ein paar von uns glauben, dass es einen Sinn gibt.‘ dabei sah er Qirk an, der zwischen ihnen stand, ‚Andere glauben das nicht.‘
Es kehrte wieder Stille ein und Maelgwn wartete, mit angehaltenem Atem.
‚Wegen Orin und Bakke …‘ meldete sich eine Mädchenstimme und jemand anderes, ein Junge, der Stimme nach, fiel ihr ins Wort: ‚Niemand sonst wehrt sich gegen Arek!‘ Ein Stimmengewirr hob an.
‚Ruhe!‘, zischte Tromme und im Zelt kehrte wieder Stille ein. ‚Nicht alle durcheinander.‘
Der große Junge, offenbar so etwas wie ein Sprecher der Straßenkinder, vielleicht auch ihr Anführer, seufzte und wurde dann von einem Hustenanfall geschüttelt.
‚Wer sind Orin und Bakke?‘ fragte Maelgwn und um ihn herum erhob sich erneut Stimmengewirr, bis Tromme die anderen Kinder wieder beruhigte.
‚Orin und Bakke. Die Hundsfötte waren Areks Lieblingsschläger. Gut, dass du sie getötet hast!‘
‚Und Don auch! Das Arschloch, das elende!‘, piepste eine Stimme.
‚Ruhig, Mia!‘ sagte Tromme, doch seine Stimme klang milde.
‚Ich habe niemanden getötet.‘ hauchte Maelgwn, ‚Und diesen Don hat Kolja getötet. Die ersten zwei, Orin und Bakke? Die habe ich ein paar mal gesehen, aber die Namen kannte ich nicht!‘, er sah sich unsicher um, ‚Ich habe erzählt bekommen, dass Kolja auch die getötet hat.‘
Wieder brandeten Stimmen auf und er runzelte irritiert die Stirn. Die Stimmlagen waren alle so hoch! ‚Also hätten wir lieber diesen Kolja retten sollen?‘ Tromme klang ernst.
‚Das kommt wohl drauf an, was ihr erwartet.‘ Maelgwn war auf der Hut, ‚Aber Kolja braucht keine Rettung. Von niemandem.‘
Im Zelt war es jetzt sehr still. Hin und wieder raschelte es in der Dunkelheit, aber sonst hörte er nichts.
‚So jemanden brauchen wir.‘ sagte Tromme leise, ‚Genau so jemanden.‘
‚Aber wofür?‘
Wieder hustete Tromme, lang und trocken. Mehrere Kinder husteten jetzt ebenfalls. Als hätten sie es zurückgehalten, um die Stille nicht zu stören.
‚Arek muss weg. Es sterben zu viele Kinder.‘
Maelgwn fröstelte.


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