Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors

Entwurf: Eine Kindheitserinnerung


NOCH NICHT ÜBERARBEITETE ROHFASSUNG!

Eine Kurzgeschichte vom Kontinent Bansa

Als Kind hatte ich wenige Freunde.
Ehrlich! Ich weiß, dass man das heute kaum noch glauben kann, aber es gab eine Zeit, da grüßte mich niemand. Niemand freute sich auch nur, mich zu sehen, oder so dachte ich zumindest. Denn niemand sagte es mir. Woher sollte ich es also wissen?
Jahre vergingen und ich blieb der sonderbare Junge, dabei waren meine Interessen nicht so ungewöhnlich. Wie alle Jungen träumte ich von der weiten Welt. Ich träumte von der Freiheit einer Welt, die nicht von Stadtmauern begrenzt wurde. Ich träumte davon, dass mein Leben nicht den Zwängen der Stände gehorchen musste.
Ich denke, an dieser Stelle sollte ich ein wenig ausholen.
Ich bin Maelgwn. Heute nennt mich kaum noch jemand bei meinem Namen, zumeist sind es Titel, mit denen man sich an mich wendet, und es schlägt mir auf das Gemüt. Wie damals sehne ich mich nach einer Welt, in der der Horizont von keiner sauber gefügten steinernen Mauer verdeckt wird. In der die Möglichkeiten nur durch die eigene Vorstellungskraft begrenzt werden, aber das ist nicht das Thema dieser Erzählung. Vielleicht kommen wir später noch einmal darauf zu sprechen.
Ich war bei meiner Kindheit, war ich nicht? Richtig.
Meine Träume unterschieden sich also nicht nennenswert von denen meiner Mitschüler, mit denen ich mich tagtäglich in der kleinen Klosterschule in Sorengard, wo ich geboren worden war, aufhielt. Doch meine Herangehensweise war eine andere, denn ich las. Ja, meine geduldigen Leser, es mutet sicher nicht wie ein grobes Verbrechen an, das einem Exil und Verachtung einbringen sollte, aber wenn man noch keine zehn Jahre alt ist, dann weckt es mitunter Misstrauen bei anderen, wenn man ein Bücherwurm ist. Ganz davon abgesehen – Kinder sind grausam.
Ja, ich weiß, dass das eine grobe Verallgemeinerung ist. Aber gerade Kinder kategorisieren und selektieren. Es sind weniger Rasse oder Stand, die eine prägende Rolle spielen, es sei denn, sie kommen aus Elternhäusern, die ein solches Denken besonders fördern. Vielmehr, und das ist die reine Wahrheit, sind es Verhaltensweisen. Und Schwächen. Starke Kinder werden schwache Kinder schikanieren. Und andere, ebenfalls schwache Kinder, werden sich nicht organisieren, um ihrem Bruder im Geiste zu helfen. Zu groß ist die Angst, selbst zum Ziel böser Streiche zu werden. Zu groß die Angst, auf Schritt und Tritt belauert zu werden.
Das also sind die Gedanken und Erkenntnisse, die meine Kindheit zu einer mitunter sehr fordernden Phase meines Lebens haben werden lassen. Ich war das Opfer: klein, belesen und still. Und hier ist der Moment gekommen, den Bösewicht vorzustellen.
Sein Name war Koron und er war ein derber junger Kerl. Er war ein Waise, so wie ich auch, aber anders als ich wuchs er tatsächlich im Waisenhaus auf. Und dort, meine lieben Leser, ging es manchmal zu wie im Tollhaus! Es gab viele Mäuler zu stopfen, und die Unterstützung des Fürsten für das Waisenhaus war so wankelmütig wie der Wind, der über die Mauern der Stadt pfiff. Mal stark, mal schwach. Mal von Norden, mal von Osten. So war es kein Wunder, dass Koron früh gelernt hatte, seine Interessen mit der blanken Faust zu verteidigen, obschon er auch ein listiger Politiker sein konnte. Geschickt nutzte er seinen Charme, um sich als Unschuldslamm darzustellen, nur um in jeder unbeobachteten Minute den Kranken und Schwachen unserer kleinen Gemeinschaft nachzustellen.
Ein Angelpunkt meines jungen Lebens stand mir damals kurz bevor. Freilich wusste ich das nicht, und wenn doch, dann hätte es mir nichts genutzt. Auf manche Dinge kann man sich nicht einstellen. Aber eines nach dem anderen.

Die Tür zu unserem Klassenzimmer, kalt und zugig, schloss sich.
Was eben noch eine, durch Rohrstock und den heiligen Zorn der Oberschwester gebändigte Herde folgsamer Kinder gewesen war, brach sich in einem Sturm Bahn. Stimmen brandeten auf und binnen weniger Herzschläge herrschte das blanke Chaos. So war es immer. Ich machte mich klein auf meinem Stuhl und versuchte, unauffällig zu sein, während ich die Kinder um mich herum beobachtete. Wir waren ungefähr vierzig, mal mehr mal weniger, und im unterschiedlichsten Alter. Es gab eine Klasse. Und unzählige Schicksalsgemeinschaften, Seilschaften, Parteien. Verschworene Feinde. Treue Freunde. Und mich.
Dies war die gefährlichste Zeit für mich. Sie kamen von überall her, schlichen sich an oder bauten sich turmgleich vor mir auf. Ich war das Opfer.
Doch manchmal beachteten sie mich nicht, meist, wenn es ihnen langweilig geworden war, mich wimmernd auf dem Boden zurückzulassen, getreten und gedemütigt. Dann hatte ich eine Weile Ruhe. Mal einen Tag. Mal zwei.
Heute war nicht mein Glückstag, denn Korons Augen fanden mich über den Raum hinweg. Ich sah schnell weg, doch ich hatte das Blitzen und den Schalk in seinen Augen gesehen. Heute war einer dieser Tage. Ich spürte den Drang zu Pinkeln und mein Bauch krampfte. Heißkalt wallte mir das Adrenalin durch die Gedärme und meinen Kopf und mir wurde schwindelig. Ich atmete stoßweise und da war er auch schon vor mir.
Es war ruhig geworden im Klassenzimmer, oder vielleicht hörte ich den Lärm auch bloß nicht mehr, während mir das Blut rauschend durch den Kopf dröhnte. Ich sah auf, begegnete Korons Blick, öffnete meinen staubtrockenen Mund und dann traf mich der erste Schlag.
Es war wieder schlimm, doch mehr als nur die Schmerzen der Schläge war es die Stille, die ich dieses Mal wahrnahm. Und dann die Rufe. Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Doch als die Schlage und der Tritt kräftiger und wütender wurden, verstand ich die Stimmen und mein Kopf wurde seltsam klar.
„Brich ihn! Brich ihn! Brich ihn!“
Da verstand ich, dass Sie mich tot sehen wollten.

Ich möchte hier kurz ausholen, denn das Erzählte kann von Uneingeweihten kaum ohne Erklärung verstanden werden. Das Brechen eines Kindes war, wie es so oft bei Kindern passiert, eine Nachahmung, eine Imitation der Welt, die Kinder wahrnehmen, aber nicht verstehen. Seht, es war damals schon üblich, die schlimmsten Verbrecher mit üblen, abschreckenden Methoden zu richten, und das Flechten auf das Rad war sicher eine der schlimmeren Torturen, die man einem Menschen vor seinem Ende bereiten konnte. Es begann mit dem Brechen der Arme und Beine. So oft wurden diese gebrochen, um nicht zu sagen zertrümmert, dass sie sich, weich wie Weidengerten, um die Sparren eines Wagenrades wickeln ließen. So „auf das Rad geflochten“ lebte der Verurteilte noch ein paar Tage, bevor ihn innere Blutungen oder Entzündungen und Wundbrand dahinrafften. Das Brechen eines Kindes in unserer kleinen Welt imitierte dieses Gebaren, jedoch ohne die Notwendigkeit eines Gerichts oder auch nur eines Verbrechens. Manchmal war die Stimmung einfach so.
Das Opfer wurde mit Hilfe von Stühlen oder Tritten zerbrochen. Die Hände, die Knie, die Arme oder das Gesicht. Nichts war sicher, wenn der Mob entfesselt war, und das verletzte Kind starb oft wenige Tage später an den Verletzungen.
Was die Ordensschwestern taten? Nun, nichts. Sollten sie etwa zugeben, dass in ihren Mauern zügellose Gewalt herrschte? Dass sie keine Kinder bändigen konnten? Das Kind wurde gepflegt, bis es starb, und da die meisten von uns Waisen waren, wurde es im Anschluss am Rande des Klostergartens vergraben. Doch fahren wir fort.

Ich blickte auf und sah in Korons Augen. Sie waren leer.
Ich hatte erwartet, den gleichen Blutdurst zu sehen, den ich um mich herum hörte, doch seine Schläge waren methodisch und ohne Leidenschaft. Ich verstand es damals noch nicht, doch auch er war von dieser Entwicklung überrascht worden und, so sehr er es genoss, Schwächere zu quälen, zum Mörder wollte er dennoch nicht werden. Doch er konnte es nicht mehr abwenden, ohne selbst zum Opfer zu werden. Kinder sind grausam.
Ein weiterer Schlag, und mein Kopf schlug auf den Steinboden. Ein Tritt riss ihn mir wieder herum.
Ich öffnete die Augen und blickte durch einen Tränenschleier hinauf zur Decke. Ich sah die Gesichter kaum, die sich über mich beugten, hörte ihre Stimmen nicht. Als mich der nächste krachende Tritt in die Rippen traf, riss etwas in mir. Ich möchte damit keine Verletzung beschreiben, aber andere Worte fallen mir nicht ein, um diesem Gefühl einen Namen zu geben. Etwas riss. Ich rollte mich auf die Seite und stemmte mich auf alle Viere. Wieder traf mich ein Triff und ließ mich wanken, doch ich war jenseits der Schmerzen. Ich starb. Es war sicher. Und wenn ich schon starb, dann wollte ich sterben, wie ich es unzählige Male gelesen hatte. Ich hatte noch nie in meinem Leben gekämpft, nie die Faust gegen ein anderes Kind geballt, aber zu sterben wie ein geprügelter Hund?
Bevor der nächste Tritt kam, stemmte ich mich schwankend auf die Beine, die zitterten wie Espenlaub, doch vor Schmerzen und der damit einhergehenden Erschöpfung. Nicht vor Angst. Nein. Ich war jenseits der Angst. Ich war keine zehn Jahre alt damals, und ich beschloss, hier und jetzt in Würde zu sterben.
Als er den nächsten Schritt auf mich zu machte, wankte ich zurück und stieß einen Stuhl in seinen Weg. Er grunzte frustriert und sah mich an. Die Geister mögen wissen, was er in meinen Augen sah, denn ich bemerkte, wie sich seine eigenen Augen weiteten und dann verengten. Auch er traf einen Entschluss und trat mir entgegen. Meine Faust traf ihn mitten im Gesicht und riss es herum, noch während es mir selbst die Mittelhand brach. Doch ich hatte mein Ende beschlossen und es gab für mich kein Halten mehr. Koron taumelte und ich schnaubte vor Zorn.
Blut aus meiner Nase sprenkelte den Boden.
Ich tat einen Schritt auf ihn zu, der sich noch nicht gefangen hatte, und spürte eine harte Hand, die mein Hemd an der rechten Schulter zerriss und mich aus dem Tritt brachte. Maruuma, einer der Kumpels von Koron, der ihm zur Hilfe eilte, doch ich hatte keine Zeit und keine Geduld für ihn. Ich packte sein Handgelenk mit meiner gesunden, linken Hand und riss ihn an mich heran. Der Schreck verwandelte seine fiese Visage wieder in etwas Kindliches, bevor ich ihm mit meiner Stirn die Nase und mehrere Zähne brach. Er gurgelte, als er fiel, und ich sah Koron halb aufgerichtet auf mich zugehen und ertrug es nicht mehr. Ich sprintete die wenigen Schritte und riss ihn von den Beinen und begrub ihn unter einem Hagel von Schlägen – und ja, ich setzte alles ein. Hände, Arme, Ellenbogen, den Kopf. Später sollte Koron noch oft davon erzählen, dass die kreisförmige Narbe auf seiner Brust daher stammte, dass ich ihm dort ein Stück herausgebissen hätte. Ich weiß noch, dass andere Kinder nach mir griffen, mich zu halten versuchten, mich schlugen und traten, doch niemand war der weißen Wut gewachsen, die mich erfasst hatte, und ich legte mein gesamtes Leben in diese Schlacht!

Irgendwann war Stille.
Ich schwankte durch den Raum, doch niemand trat mir entgegen. Ich sah Blut und Körper, die sich am Boden wanden. Ich hörte Weinen. Ich hörte Stöhnen.
Ich sah an mir herab und überall an mir war Blut.
Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, wie ich den Blick in die Runde schweifen ließ. Nirgends verweilte ich, doch ich spürte mit jeder Faser und sah es in jedem Blick: Der Blutdurst war verschwunden, denn ich hatte ihnen Blut im Überfluss gegeben.

Ja, meine Lieben, kaum zu glauben, dass mich dieses Erlebnis geprägt hat, nicht wahr? Ich hoffe, Ihr seht mir die Ironie nach. Und ja, mein Leben veränderte sich nach diesem Tag, als ich inmitten meiner Klassenkameraden zusammenbrach und sich dennoch niemand traute, mir auch nur nahezukommen.
So wild der Kampf auch gewesen war: Er hatte niemandem das Leben gekostet, auch wenn mehrere andere, so wie ich auch, Wochen in Krankenlagern verbringen mussten. Und bis heute hat niemand der Beteiligten Zeugnis über die Vorfälle an jenem Tag abgelegt. Es blieb unser Geheimnis.

Und was daran hat mein Leben nun verändert, wollt ihr wissen? Nun, das Offensichtliche zuerst: Niemand wollte sich noch einmal mit mir anlegen.
Kein Wunder, nicht wahr?
Aber dass Koron und ich wenige Wochen später einen Burgfrieden schlossen und kurze Zeit darauf damit begannen, echte Freunde zu werden, das hätte niemand ahnen können.
Die Schikanen und Gewaltätigkeiten gegenüber Schwächeren verschwanden nach und nach, denn meist genügte ein Blick von mir, um jedem den Spaß zu rauben. Und Nein, es wurde nie wieder ein Kind in diesem Klassenzimmer gebrochen.

Seine Exzellenz Sankt Maelgwn
Patriarch des Neuen Ordens


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