Jetzt war es dunkel. Das Tageslicht war vollkommen verblasst. Ich fröstelte und versuchte mich noch enger in meinen Umhang zu wickeln, doch es gelang mir nicht. Ich hatte mich natürlich nicht mehr in meinen Laden begeben aus Furcht, dass dieser Inquisitor Rogarra doch noch einmal nach mir suchen würde. Am Hafen kannte ich mich relativ gut aus und ich hatte mich den Rest des Tages in einem leerstehenden Haus am Rande des Hafendeckens, nahe der Hafenausfahrt, verborgen. Jenseits der Hafenausfahrt war das diesseitige Ende der Stadtmauer zu sehen und jenseits davon lockte die Freiheit. Mehrfach hatte ich die Mauer, die Hafenausfahrt und den Wehrgang studiert, nur um immer wieder zu demselben Schluss zu kommen: Es gab nur einen Ausweg für mich. Ich würde schwimmen müssen. Oder aber ich stahl ein Boot. Angesichts der kalten, nach fernem Frost riechenden Luft wäre schwimmen vermutlich die schlechtere der beiden Ideen, es sei denn, dachte ich ironisch, ich wollte doch noch den Freitod wählen. Also ein Boot. Doch kaum war es dunkel genug gewesen, um an die Umsetzung meines Plans zu gehen, war eine Prozession dunkler Gestalten mit Fackeln im Hafen erschienen und ich duckte mich ängstlich in der leeren Fensteröffnung, die mir den Blick auf den Hafen freigab. Es waren etwa ein Dutzend Personen, die meinen Laden umstellten, ihn dann betraten, doch diesmal gingen sie sehr viel gründlicher vor als am Mittag. Stapel um Stapel wurden Bücher aus dem Haus getragen, im Schein der Fackeln von zwei berobten Männern studiert, nur um dann auf einem größer und größer werdenden Haufen auf dem Pier zu landen. Lange ging das so. Hin und wieder hatte, gerade am Anfang, einer der Nachbarn den Kopf aus dem Fenster gesteckt, vermutlich, um sich ob des Lärms zu beschweren, doch die Köpf verschwanden schnell wieder, die Fenster wurden verriegelt und die Lichter gelöscht. Es war aber auch ein gespenstischer Anblick, der sich dort bot. Einmal war die Szenerie zum Stillstand gekommen, als ein Wächter mit einem einzelnen Buch zu einem der Inquisitoren trat und es überreichte. Es war zu weit weg, um Details zu erkennen, doch ich hätte vieles darauf gewettet, dass das Buch einen verschlissenen Einband mit goldenen Lettern hatte und sich in seinem Inneren ein Hohlraum befand. Der eine Inquisitor blätterte das Buch kurz durch und besah es sich, dann warf er es wütend auf den Stapel zu den anderen Büchern und redete gestikulierend auf den anderen ein, worauf dieser eine Fackel und zwei der Wachen mitnahm und eiligen Schrittes in Richtung des Klosters davoneilte.
Ich griff in meinen Beutel, den ich nicht abgelegt hatte, falls ich fliehen musste, und holte das Medaillon heraus. Ich wog es in der Hand und überlegte, es der Inquisition einfach zu übergeben, doch es gab keine Garantie dafür, dass man mir wohlwollend begegnen würde. Ganz davon abgesehen würde mich das aufhalten und ich wollte das Risiko nicht eingehen, dass Aker Einauge mich doch noch zu fassen bekam. Meine Zeit in dieser Stadt hatte ein Ende gefunden, ich hatte es innerlich bereits akzeptiert.
Vielleicht könnte ich das Medaillon irgendwo im Hafen liegen lassen, überlegte ich weiter. Wenn die Inquisition es fand, gab es vielleicht gar keinen Grund mehr für sie, mich zu suchen, und ich hätte eine Sorge weniger. Fand aber irgendein Hafenarbeiter, oder einer der städtischen Bettler, das Medaillon, konnte ich mir sehr sicher sein, dass die Inquisition es niemals in die Hände bekommen würde.
„Lass gut sein, Junge“ hörte ich die Stimme Gariars in meinen Gedanken, „Nimm das Medaillon mit und geh, blicke nicht zurück und verlasse die Stadt. Du wirst deinen Weg finden, wenn du nur mutig bist!“
Ich runzelte die Stirn. In meinen Gedanken hatte Gariar eine seltsame Art ‚Medaillon‘ auszusprechen. Er klang überhaupt nur sehr entfernt wie mein alter Mentor. Traurig, dass ich bereits den Klang seiner Stimme zu vergessen schien.
Etwas knirschte vor dem Haus und ich hielt den Atem an, dann hörte ich halblaute Stimmen. Sie waren noch ein Stück entfernt und ich wagte einen vorsichtigen Blick, aus dem Schatten der Ruine heraus, auf die Straße. Dort stand eine Handvoll Männer und unterhielt sich leise. Sie deuteten mal in Richtung meines Ladens, mal in Richtung der angrenzenden Gebäude und jetzt konnte ich noch weitere Schatten sehen, die sich in den Seitengassen bewegten. Offenbar hatte man Leute ausgeschickt die jetzt die Gassen und leeren Häuser durchsuchten. Mir brach der Schweiß aus und ich zog mich vom Fenster zurück und schlich, so schnell ich konnte, tiefer in das leerstehende Haus hinein, in der Hoffnung, ein gutes Verstecken zu finden. Doch es war vergebens! Möbel gab es in diesen Mauern schon lange keine mehr, Koron und ich hatten uns vor einigen Jahren schon einmal hier versteckt, als wir uns verbotener Weise aus dem Kloster geschlichen hatten. Schon damals hatte das Haus nur Wände und Dach gehabt, alles andere war irgendwann geplündert worden. Es gab einen Keller, erinnerte ich mich, und so zügig ich konnte, ohne mich durch laute Geräusche zu verraten trat ich in die tiefe Dunkelheit des Kellerabgangs. Ich tastete mich voran. Die Dunkelheit war absolut, die Wände die ich erfühlte nass und glitschig und es roch nach Schimmel und Tang. Fast wagte ich Hoffnung zu schöpfen, da hörte ich Stimmen über mir im Haus und ich sah den tastenden Schein einer Fackel, der sich dem Kellerabgang näherte. „Ich mache den Keller. Danach gehe ich noch nach oben. Bleibt da lieber weg, es ist baufällig und ich weiß, wo ich hintreten kann und wo nicht.“, ich erkannte die Stimme und verharrte, während sich oben ein kurzes Gespräch entspann.
„Ich war als Kind hin und wieder hier, daher!“ konnte ich wieder Korons Stimme hören, der sich dem Klang nach bereits auf der Treppe nach unten befand, „Geht ihr ruhig schon einmal ans Piers und kontrolliert die Boote, dann sind wir hier schneller fertig. Wenn einer von euch in Rufweite bleibt, falls ich etwas finde, wird es ausreichen.“
Irgendjemand entgegnete etwas, und es klang für mich zustimmend, dann näherten sich Schritte meinem Versteck. Ich kauerte in den Schatten und betete zum Großen Geist. Dann stand Koron vor mir.
„Mein Gott, Maelgwn!“, zischte er, nachdem er seine Fackel wieder aufgehoben hatte. So sehr hatte er sich vor mir erschreckt, dass er die Fackel durch den halben Raum geworfen hatte und sein Atem ging stoßweise. „Scheisse!“
„Du hast doch damit gerechnet, dass ich hier bin. Oder nicht?“, flüsterte ich, „Warum sonst hättest du die anderen…“ Koron winkte ab.
„Ist ja richtig! Aber weißt du, wie du aussiehst?! Du bist bleich wie der Tod, mit einem schwarzen Umhang und kauerst in einer verdammten Kellerruine im Dunkeln! Was meinst du denn wie das aussieht!“
So empört sah er aus, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Doch meine Situation war noch immer unsicher.
„Was machst du hier, Kor?“, fragte ich ihn angespannt.
„Die Inquisition“, sagte er, mit einem Schulterzucken, „Sie haben ein Freiwilligenkorps aufgestellt um nach dir zu suchen. Die Beschreibung war gut genug, dass ich verstand, nach wem sie suchten… Naja, und dann habe ich mich eben freiwillig gemeldet.“
Er sah mich prüfend an. „Ich weiß ja, dass ich dir gesagt habe du sollst eine Lösung für dein Kreditproblem finden, aber das Kloster zu bestehlen? Bist du verrückt geworden?“
„Ich habe das Kloster nicht bestohlen!“, schnauzte ich und Koron zuckte zusammen während er einen Blick über seine Schulter warf. Gemeinsam lauschten wir, doch von oben kam kein Laut. Deutlich leiser fuhr ich fort: „Schwester Delissa hat mit mehrere Kisten Bücher geschenkt, nachdem ich ihr in der Bibliothek ausgeholfen habe! Ich habe ihr sogar noch gesagt, dass das vermutlich keine gute Idee von ihr sei, doch sie bestand darauf. Sie hätte eh zu viele Bücher, sagte sie.“
Koron musterte mich missmutig.
„Sie haben Delissa eingesperrt und jetzt wühlen sie sich durch deinen Laden. Offenbar war die Idee tatsächlich nicht besonders gut!“, grummelte er, „Und jetzt? Was könnten die suchen?“
„Haben sie euch das nicht gesagt? Ihr sollt ihnen doch helfen, oder?“
„Das Freiwilligenkorps sucht nur nach dir. Den Laden machen die Inquisitoren Bruder Torre und Bruder Saul. Sie unterstehen dem Befehl eines dritten, einem…“ Koron legte grübelnd die Stirn in Falten.
„Rogarra“ halt ich ihm auf die Sprünge, „Das ist zumindest der Name, den ich auf dem Markt gehört habe.“
Koron nickte. „Torre und Saul unterstehen die Stadtwachen und sie suchen nach den Dingen, die du angeblich gestohlen hast. Doch keine Bücher, oder, Mael?“
„Die Bücher haben sie sich schon zurück geholt. Die waren aber nichts Besonderes.“, seufzte ich und massierte meine Schläfen. Die andauernde Anspannung lies meinen Kopf schmerzen.
Ich sah Koron in die Augen und beschloss offen zu sein. Wenn er mich verriet war ohnehin alles verloren.
„In einem der Bücher war ein Schmuckstück versteckt“ Ich zog die Kette mit dem Medaillon aus meiner Tasche und hielt es so, dass er es sehen konnte
„Ich vermute, dass es das ist, was der Orden sucht.“
Ich betrachtete das Schmuckstück selbst für einen Moment und steckte es dann wieder ein. „Aber frag mich nicht warum das so ist. Auf dem Markt wollte man mir dafür gerade einmal zwei Silberstücke geben, es scheint also nicht besonders wertvoll zu sein.“
„Warum übergibst du es nicht einfach?“, fragte Koron und ich zuckte wieder mit den Schultern.
„Machen diese Inquisitoren auf dich den Eindruck, als wäre die Sache damit erledigt und vergessen? Willst du es vielleicht nehmen? Du könntest sagen, du hättest es irgendwo auf dem Boden gefunden.“ schlug ich vor, doch Koron schüttelte den Kopf.
„Ich glaube du hast Recht“, murmelte er halblaut, „Und ich möchte mich nicht auch noch zur Zielscheibe machen.“
Eine unangenehme Stille trat ein.
„Was hast du jetzt vor?“ wollte er dann wissen.
„Ich verlasse die Stadt.“, es auszusprechen gab mir Sicherheit.
„Ich gehe auch weil ich den Kredit wohl niemals werde zurückbezahlen können. Die Handlanger von Arek haben mir gestern eine letzte Frist gesetzt. Sie sagten auch, dass ich ja nirgends hingehen könnte, aber sie irren sich. Ich gehe fort, in die Fremde, und fange ein neues Leben an.“
Koron musterte mich lange und ich sah den Widerstreit der Gefühle auf seinem Gesicht.
„Mael,“, sagte er dann unbehaglich, „Ich sagte ich würde dich begleiten, wenn es dazu kommt, aber…“ Ich hob die Hand und unterbrach ihn.
„Warum solltest du?“, fragte ich sanft, „Du schuldest mir nichts und du hast dein eigenes Leben. Wirf es nicht meinetwegen weg.“, ich trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er blinzelte heftig.
„Ich brauche nur etwas mehr Zeit,“, flüsterte er heiser, „Ich stehe zu meinem Wort!“
„Das weiß ich, Kor, doch ich habe keine Zeit. Ich gehe noch heute Nacht.“
So verzweifelt sah er aus, dass es mir fast die Kehle zuschnürte. Er war mein bester Freund und vielleicht verstand ich es in diesem Moment zum ersten Mal wirklich. Doch ich hatte keine Wahl. Das Risiko war zu groß.
„Wohin wirst du gehen?“, fragte er nach einer Weile.
„Von hier aus über das Hafenbecken an die Küste und dann weg vom Meer ins Landesinnere. Mehr weiß ich auch nicht. Vielleicht nach Tollund, vielleicht nach Grefenstadt, ich könnte die ehrwürdige Bibliothek besuchen und vielleicht finde ich dort eine Anstellung.“, ich versuchte zu lächeln, auch wenn mir nicht danach war.
„Ich habe über diese Städte nur gelesen. Das ist jetzt meine Chance, sie selbst zu sehen.“
„Somarsand“, hörte ich die Stimme Gariars wieder, „Und die verborgenen Geheimnisse der bakarischen Keilschriften ergründen!“
Ich blinzelte verwirrt, aber der Gedanke war gut. Der Orden war im tiefen Süden nicht so präsent. Zwar konnte ich die Schrift der Bakar nicht lesen, ganz davon abgesehen, dass ich die Sprache selbst nicht beherrschte, aber ich war begierig darauf, etwas Neues zu Lernen.
„Oder Somarsand,“, sagte ich, in Gedanken versunken, „Ich denke ich gehe nach Somarsand. Für den Fall, dass der Orden weiter nach mir suchen sollte bin ich dort sicherer.“
„In den Süden also?“, fragte Koron tonlos, „Steht der Plan fest? Wirst du sicher in den Süden gehen?“
„Ja! Ich gehe in den Süden.“ Ich sah ihm in die Augen und erkannte einen Funken des Trotzes in ihnen. In diesem Moment hätte ich ahnen müssen, dass er selbst gerade einen Entschluss gefasst hatte.
Krrrrrrrrh! Das Geräusch des Ruderboots, das an einem anderen Boot entlangschabte klang unnatürlich laut in meinen Ohren. Meine Hände zitterten vor Anspannung und ich stellte mich sehr ungeschickt dabei an, das kleine Boot aus seinem Anlegeplatz zu bugsieren. Immer wieder schaute ich über meine Schulter, aber die Suchmannschaften waren abgezogen, mein Laden geplündert und verlassen und ich wusste, dass die Dämmerung nicht mehr sehr weit war. Leises Klappern drang an mein Ohr, denn die ersten Hafenbewohner erwachten gerade und die Fischer würden schon bald ihre Boote besteigen um zur Fangzeit, wenn es dämmerte, auf dem Wasser zu sein. Ich tat einen ungeschickten Zug mit den Riemen, sah noch einmal über meine Schulter und zuckte heftig zusammen. Denn dort rannte eine Gestalt über den Steg. Und sie kam genau auf mich zu!
So hektisch kämpfte ich mit den Rudern, dass ich mich kaum bewegt hatte als die Gestalt bei mir ankam und ich eine verzweifelte Stimme hörte: „Nehmt mich mit! Ich bitte euch! Nehmt mich mit!“, es war die Stimme einer Frau. Ich kniff die Augen zusammen, mehr noch, als ohnehin schon und starrte in die Dunkelheit unter ihrer Kapuze.
„Delissa?“, zischte ich ungläubig.
„Maelgwn?!“, sie klang panisch, „Was machst du denn hier?!“
Wäre die Situation nicht so kritisch gewesen, ich hätte gelacht bei dieser Frage. So aber ruderte ich ein Stück zurück und ließ sie einsteigen und als ich die Stadt verließ, in der ich mein ganzes bewusstes Leben verbracht hatte, war ich, wider Erwarten, nicht alleine.
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