Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors

Entwurf: Die ersten Tage


Dass es uns gelungen war, der Stadt zu entkommen, hatte an ein Wunder gegrenzt. Jetzt kauerten wir in einer kleinen Höhlung in der Steilküste und zitterten uns warm. Zur See hin offen war die Höhle nur wenig Schritte tief und gerade hoch und breit genug, dass wir uns soweit dort zurückziehen konnten, dass ein flüchtiger Blick über die Kante nicht ausreichen würde, um uns zu entdecken. Außerdem waren wir ein wenig vor dem Wind geschützt. Nur ein wenig, denn er blies unablässig auf die Küste und entzog einem nach und nach alle Wärme. Selbst das bisschen Wind, das bis in die Höhle reichte, genügte, und wir wickelten uns eng in unsere Umhänge, wobei Delissa schlechter dran war als ich. Ich hatte einen dicken Reiseumhang aus Wolle, der zwar kaum für den Winter reichen würde, aber recht guten Schutz vor der Witterung bot. Delissa aber hatte die Stadt noch sehr viel überstürzter verlassen müssen als ich und nur sehr wenig mitnehmen können. Ihre Schwesternrobe wurde ergänzt durch ein dunkles Cape aus Leinen, mehr ein Sichtschutz als ein taugliches Kleidungsstück. Aus diesem Grund saß sie auch weiter hinten in der Höhle, während für mich der Platz in der Nähe des Eingangs übrig geblieben war. Vermutlich litten wir beide ungefähr gleich unter der Kälte.
„Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Inquisitor gesehen und dabei verbringe ich bereits mein ganzes Leben im Orden“, erzählte Delissa gerade und im Halbdunkeln der Höhle sah ich, wie ihr schauderte. Doch vielleicht war es nur die Kälte.
„Sie kamen in die Bibliothek, distanziert aber höflich. Aber ich hatte große Angst als sie in das Lager gingen und die Bücher aus dem Nachlass durchsuchten. Sie waren sehr gründlich und wurden immer wütender. Und ich stand daneben und wäre fast in Ohnmacht gefallen! Ich ahnte ja schon, was sie suchten.“ Sie verstummte und starrte an mir vorbei auf die Wellen des, ein dutzend Meter unter uns liegenden, Meeres.
Ich schluckte, denn ich konnte mir gut vorstellen, wie sie sich gefühlt haben musste.
„Ja, das habe ich mir auch schnell zusammengereimt“, sagte ich mit belegter Stimme und sie sah mich an.
„Es tut mir leid, dass ich dir das angetan habe!“, schluchzte sie und ich sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. Ich sah weg. Ich hatte ihr nichts vorzuwerfen.
„Wie hättest du das wissen sollen? Du hast es selbst gesagt, man hat dich mit diesen Büchern alleine gelassen und irgendwas musstest du ja tun.“
Delissa wischte sich mit der Hand über die Augen.
„Dabei haben wir doch schon die besseren Bücher im Kloster gelassen, aber ich kenne mich ja selbst nicht aus. Oder hast du …“, sie ließ die Frage unausgesprochen, doch ich wusste, was sie sagen wollte.
„Nein. Habe ich nicht. Die Bücher, die ich mitgenommen habe, waren schöne Exemplare und für ein Antiquariat durchaus wertvoll, aber vor dem Hintergrund der Ordensbibliothek uninteressant. Die meisten der Bücher gab es in der Bibliothek schon und es waren auch keine besonderen Exemplare, Erstausgaben oder Prunkstücke, dabei. Ich habe dich nicht hintergangen!“ Fast war ich ein wenig entrüstet, dass sie mir das unterstellte. Aber die Vermutung war ja vor dem Hintergrund, was geschehen war, nicht ganz von der Hand zu weisen.
„Ich kenne mich auch ein wenig mit der geächteten oder verbotenen Literatur aus, die der Orden nicht verbreitet wissen will. Bücher von Noi’rhom Godemorderen zum Beispiel, oder Bücher der Geisterseher der Takali und Bakar. Aber hätte ich ein solches Buch gesehen, hätte ich es dir gesagt.“
Delissa hatte mich bei diesen Worten groß angesehen: „Noi’rhom Godemorderen?“, hauchte sie, „Die Geißel der Reiche? Er hat Bücher geschrieben?“
„Ja“, sagte ich leichthin und setzt mich ein wenig anders hin, da mich ein spitzer Stein drückte. „Er hat nicht viel geschrieben, glaube ich, aber er war ein Gelehrter und die wenigen Bücher von ihm werden vom Orden streng unterdrückt. Angeblich kann einen alleine das Lesen eines dieser Bücher zu einem Totenbeschwörer, oder schlimmer noch, einem Untoten, machen.“
Delissa keuchte erschreckt, die Augen geweitet. „Und in der Ordensbibliothek gibt es solche gefährlichen Bücher?“
„Nein“ winkte ich ab, „Wir haben einmal eines bekommen, das bei einem reisenden Händler beschlagnahmt wurde, aber es wurde abgeholt und vernichtet. Damals habe ich das erste Mal einen Inquisitor gesehen.“
Ich betrachtete Delissa, wie sie vor mir saß, mit hochgezogenen, gebeugten Schultern ob der Kälte und der Verzweiflung im Blick. Ihr ganzes Leben hatte sie dem Orden gewidmet und hätte es auch weiterhin getan. Nein, viel mehr noch gab es für sie überhaupt keinen anderen Plan. Zwei Tage waren vergangen und sie stand vor einem Scherbenhaufen und konnte sich nicht einmal einen Reim darauf machen, warum passiert war, was passiert war.
Ich ertastete das Medaillon in meiner Tasche und hielt es kurz in der Hand. Ich würde ihr davon erzählen, gelobte ich mir. Aber jetzt noch nicht.

Den gesamten Tag verbrachten wir in der kleinen Höhle, frierend und hungrig. Ich hatte meine Flucht immerhin geplant und ein paar Dinge sowie Proviant eingepackt, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich würde teilen müssen. Dazu kam, dass wir nicht wissen konnten, wie unsere Flucht verlaufen würde und wann wir das nächste Mal etwas zu essen bekommen konnten. Also aßen wir nur wenig und ignorierten das Bedürfnis nach mehr.
Als es wieder dunkler wurde, packten wir unsere wenigen Sachen zusammen und kletterten hoch auf die Küstenstraße. Das Versteck war gut gewesen, aber auch so gelegen, dass es für uns nicht möglich gewesen war, die Straße zu beobachten oder auch nur zu hören, was dort passierte. Wir wussten also nicht, ob es mittlerweile Suchmannschaften außerhalb der Stadt gab und ob man unsere Flucht überhaupt bemerkt hatte. Um sicherzugehen, entschieden wir uns in Sichtweite zur Straße, aber ein Stück daneben im von Heidekraut und niedrigem Gebüsch überwachsenen Landstreifen zu wandern. Wir waren noch keine Stunde unterwegs, da hielten wir die erste Krisensitzung, denn wir kamen kaum voran, zerkratzen uns in der Dunkelheit Hände und Gesicht und unser Schuhwerk war durchweicht von den im Dunkeln unsichtbaren Pfützen und Moraststellen. Dazu kam, dass weder Delissa noch ich daran gewöhnt waren lange Strecken zu marschieren, ganz zu schweigen davon, uns in so schwierigem Gelände zu bewegen, zur Nachtzeit und ohne Licht.
Wir wollten uns nicht aufhalten und so verzichteten wir darauf, unsere Kleidung zu reinigen und wanderten nass weiter. Am Abend hatten wir wunde Stellen an den Füßen und Beinen.
„Ich kann nicht mehr weiter!“, stöhnte Delissa einmal leise, doch um uns herum war es offen und nach einem Blick in die Runde ließ sie den Kopf hängen und trottete weiter.
Wir fanden einen Platz zum Rasten in einer kleinen Baumgruppe. Sie lag weit genug von der Straße weg, dass sie nicht regelmäßig als Rastplatz diente und wir fühlten uns weitestgehend sicher. Ein Feuer entzündeten wir trotzdem nicht, die Dämmerung war auch schon nah.
„Keine Ahnung, wie weit wir gekommen sind“ ließ ich Delissa wissen, „und ich weiß auch nicht, wie weit wir noch bis zur nächsten Ortschaft gehen müssen. Ich war noch nie vor den Stadttoren.“
Sie sah mich staunend an, ihre schmerzenden Beine und Füße kurz vergessend.
„Was soll das heißen, du warst noch nie vor den Stadttoren? Noch niemals nie? Man kann doch sein Leben nicht in einer einzigen Stadt verbringen!“ Sie schien ernsthaft überrascht zu sein.
„Vielen Städtern geht das so“, grunzte ich, wider Willen verletzt von ihrem Ausbruch.
„Ich habe in der Klosterschule gelernt, habe dann meinen Gesellen in der Klosterbibliothek gemacht und noch ein paar Jahre dort gearbeitet, bis mein Lehrmeister gestorben ist und man mich vor die Tür gesetzt hat. Das war vor etwas mehr als einem halben Jahr.“
„Und du wolltest nie etwas anders sehen? Die Stadt verlassen? Auf Wanderschaft?“
„Als Schreiber und Bibliothekar?“, wunderte ich mich, „Was meinst du, in wie vielen Ortschaften würde so ein reisenden Schriftgelehrter denn Arbeit finden, um auf seiner Wanderschaft nicht zu verhungern?“
„In mehr als du meinst“, sagte Delissa und sah mich nachdenklich an.
„Was ist?“, fragte ich, denn ich konnte ihren Blick nicht deuten.
„Schon gut“, wiegelte sie ab. „Lass uns ein wenig ruhen.“

Den Tag verbrachten wir im Schutz der Baumgruppe. Wir machten uns klein und unauffällig, und davon abgesehen, dass wir hin und wieder Geräusche vorbeiziehender Gruppe von der Straße hinüberwehen hörten, passierte nichts, was uns beunruhigt hätte. Wir sprachen nicht viel, doch als die Abenddämmerung einsetzte, übernahm Delissa die Führung und erklärte mir, in welche Richtung wir zu gehen hatten.
„In diese Richtung“ sie zeigte weiter die Küste entlang, „kommt das Fischerdorf Schwalvn. Es ist eher ein kleiner Hafen, gut ausgebaut und wohlhabend. Sie trocknen und pökeln ihren Fang und verkaufen ihn ins Inland, hauptsächlich an große Karawanen, für die es einer der letzten Haltepunkte hier im Norden ist, bevor sie sich wieder in Richtung Süden durch das Reich bewegen. Der Fisch aus Schwalvn wird überall gerne genommen, aber gewiefte Händler behalten ihn, bis sie in Somarsand sind, denn die Steppenvölker im Süden betrachten ihn als Delikatesse. Und sie zahlen gut. Dort gehen wir hin. Nach Schwalvn, meine ich. Der Ort ist groß genug, dass wir uns dort für eine längere Reise versorgen können. Zwar kommen dort viele Handelskarawanen durch und wenn man uns außerhalb der Stadt sucht, dann als erstes dort, aber es gibt im Umkreis ansonsten keinen echten Marktflecken und mit den Sachen die wir bei uns haben kommen wir nicht weit.“
„Davon habe ich bisher noch nie etwas gelesen“, staunte ich.
Delissa schien verwirrt. „Dass Leute, die schlecht gekleidet sind im Herbst nicht gut reisen?“, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf.
„Was du über den getrockneten Fisch erzählt hast.“
Delissa nickte wissend. „Man redet beim Handel immer nur von Robbenpelz und Bernstein, aber von den vielen kleinen Dingen, die es hier im Norden, aber sonst nirgends im Reich, gibt, weiß man nichts. Trockenfisch, Harz und Flintstein, sind nur ein paar davon.“
„Flintstein?“ Ich betrachtete ein Stück Flintstein, das nur wenige Fuß vor mir aus dem Boden ragte, „Aber der liegt doch einfach überall herum.“
„Hier ja, Maelgwn. Aber im Süden gibt es ihn nicht. Was eignet sich besser zum Handeln als etwas, für das ich an dem einen Ort überhaupt nichts bezahlen muss und an dem anderen Ort gibt man mir Geld dafür?“
Ich betrachtete Delissa mit neuem Respekt. Meine eigene Bildung war umfassend, und hatte doch auf so vieles keine Antwort.
„Ja, das ist nur logisch“ räumte ich halblaut ein. Mir war, als hätte sie eine Pforte aufgestoßen und dahinter lag eine Welt, größer und bunter als ich sie mir je vorgestellt hatte. Dann blinzelte ich und das Bild verschwand. Ich stand wieder in einem Wäldchen, in dem es dunkler und dunkler wurde, meine Füße schmerzten und mir war kalt. Delissa schien es ähnlich zu gehen, denn machte ein paar Schritte, unterdrückte ein Ächzen und sah sich dann nach mir um. „Lass uns gehen. Erstmal müssen wir hier wegkommen. Wer weiß, was die Inquisition mit uns macht, wenn sie uns noch findet.“
Ich warf mir meinen Beutel über die Schultern und grunzte vor Unbehagen. Mit Gedanken an Gefangenschaft und Folter verfiel ich in einen langsamen Trott.

Wir erreichen Schwalvn kurz vor der Dämmerung. Wir kamen einen langgezogenen Hang herab und konnten das Dorf schon von weitem sehen. Der Fischerhafen war überraschend groß, fast so groß wie der Stadthafen von Sorengard doch während in der Stadt fast alle Häuser in Fachwerk gebaut und zweigeschossig waren, wurde hier aus Treibholz und Fichtenstämmen gebaut. Alles war robust und niedrig gebaut, wahrscheinlich um dem endlosen Wind und den Stürmen zu trotzdem. Die dicken, mit Reet gedeckten Dächer waren dunkel und gaben Schwalven aus der Ferne und im Dunkeln den Anschein einer unregelmäßigen, braunen Moosfläche. Erst als wir langsam näher kamen und der Morgen zu dämmern begann, erkannte man die niedrigen, teilweise mit Lehm verputzen Häuser, die kleinen Türen und Fenstern. Hier und da kräuselte sich Rauch aus Öffnungen in den Dächern und auf vielen freien Flächen und außerhalb des Dorfes standen Trockengestelle und Fässer zum Pökeln. Die Trockengestelle waren weitestgehend leer, was vermutlich dem feuchten Herbstwetter geschuldet war. Während wir es noch betrachteten, erwachte es langsam aus seiner Nachtruhe und die ersten Bewohner erschienen vor ihren Häusern. Niemand machte Anstalten, zu den Booten zu gehen. Offenbar hatte man den Fang für den Winter bereits eingelagert, die Vorbereitungen für die kalte Jahreszeit konzentrierten sich jetzt auf die Vorräte an Feuerholz und das Flicken und Einlagern der Netze und Segel. Es war ein friedlicher und heimeliger Anblick.
Ich sah Delissa an, die das Dorf aufmerksam studierte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich, „Sollen wir ein wenig abwarten, ob Patrouillen im Dorf sind?“ Aber Delissa schüttelte den Kopf.
„Nein. Von der Stadt hierher ist es nicht so weit. Wenn man tags und auf der Straße marschiert, ist man an einem Nachmittag ohne weiteres hierhergelaufen. Vermutlich schicken sie eher morgens ein paar Leute los, die dann bis abends wieder zurück in der Stadt sind.“
„Also gehen wir jetzt.“ schlug ich vor, „Solange es noch ruhig ist und bevor noch jemand aus der Stadt kommt.“
„Das wollte ich auch gerade vorschlagen“, murmelte Delissa mit gefurchter Stirn, doch offenbar konnte sie keinen Grund finden, noch zu warten. Sie sah mich mit einem Ausdruck an, der wohl sagen sollte ‚etwas Besseres fällt mir auch nicht ein‘ und machte sich auf den Weg ins Dorf.


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