Der Bergkönig hatte sich seiner schmutzigen Kleidung und der Reste seines Kettenmantels entledigt. Er hatte sich gewaschen, lange und gründlich, doch Blut und Schmutz waren tiefer gedrungen als nur durch die Kleidung und er fühlte sich immer noch nicht sauber. Sorengard war auf seiner langen Reise einer der wenigen Orte, die er nie ausgiebig besucht hatte. Und das gedachte er nachzuholen. Zwangsläufig.
Der hereinbrechende Winter hatte den Weg hierher zu keinem Vergnügen gemacht, ganz abgesehen von den Häschern. Die Entbehrungen hatten ihn gezeichnet. Doch allein seine Größe machte Kolja Succar, den „Bergkönig“, zu einem beeindruckenden Mann. Was nicht gut war. Insbesondere nicht, wenn man gesucht wurde. Die Reiche Isnir und Kelden waren zwar nicht verbündet, aber das würde Kolja kaum zum Vorteil gereichen. Sollte Kelden ihn öffentlich suchen lassen, und sollte er hier gefangen werden, würde ihn nichts vor einer Auslieferung bewahren. Er hatte schon zu viele Jahre in Kerkern und in Straflagern verbracht, um das Risiko auf die leichte Schulter zu nehmen. Er würde sich nicht davon paranoid machen lassen. Aber vorsichtig würde er sein.
Kolja hatte in einem Gasthaus im Hafen der Stadt Quartier bezogen, weil es ordentlich, aber klein war und nur wenige, gut situierte Gäste hatte. Der Name „Zum Goldenen Bug“ kam sicher nicht von ungefähr, denn es war teuer. Genau das, was er jetzt brauchte um sich zu verbergen. Er wollte nicht heimlich erscheinen, aber er hatte dem Wirt genug Geld für einen Monat gegeben und sich zurückgezogen. Essen und Bier hatte er sich auf das Zimmer bringen lassen und jetzt saß er, seit langem wieder satt und die Hände über seinem Krug gefaltet, an einem offenen Fenster in der kalten Luft. Nach Wochen auf der Flucht und immer im Freien kam ihm das angenehm geheizte Gasthaus heiß und drückend vor. Dabei brannte nicht einmal der Kamin. Er hatte das Licht im Zimmer gelöscht, den Wandteppich zur Seite geschoben und den Fensterladen geöffnet. Jetzt beobachtete er den nächtlichen Hafen, ließ den Wind sein Gesicht kühlen und dachte nach.
Sorengard. Hauptstadt von Isnir. Er hatte nie für, oder gegen, Isnir gekämpft, zumindest nicht unter dem aktuellen König oder seinem Vater, und er sollte hier keine direkten Feinde haben. Einer der wenigen Orte nördlich der Teiler Berge, auf den das zutreffen mochte. Vielleicht hatte er ja einfach mal Glück?
Er nahm einen kleinen Schluck Bier.
Vor wenigen Wochen hatte er sein Kommando, eine kleine Söldner-Kompanie aus zwei Hundertschaften, in einen Auftrag geführt und verloren. Einen leichtsinnigen Auftrag, wie er jetzt schweren Herzens eingestand. Zugegeben, sein Spielraum abzulehnen war sehr klein gewesen. Aber jetzt hatte er keine Kompanie mehr und viele seiner Jungs waren tot, in Gefangenschaft oder auf der Flucht. Er rieb sich die gefurchte Stirn und folgte mit dem Blick dem Gang eines Betrunkenen, der, ein Stockwerk unter ihm, schlingernd in der Düsternis verschwand. So viele gute Jungs.
Er hatte die verschiedenen Untergruppen der Kompanie in der freien Stadt Narvinir zusammengerufen, weil sie, nun ja, frei war. Es war riskant, aber eine Konsolidierung der Führung war längst überfällig gewesen, denn die Gruppen der Kompanie operierten zumeist unabhängig im gesamten Norden des Kontinents. Sie hatten sich getroffen, um sich ihrer gegenseitigen Loyalität zu versichern und den Männern Fronturlaub zu ermöglichen. Und dann war die freie Stadt auf sie zugekommen. Das Angebot war einfach: ‚Mindestens zwei der nördlichen Königreiche zahlen gut für den ein oder anderen Kopf aus eurem Gefolge! Kämpft für uns in der aktuellen Kampagne gegen Kelden, oder wir vernichten euch bis auf den letzten Mann.‘
Kolja und seine Männer hatten gewusst, dass Narvinir bluffte, zumindest zum Teil. Aber die Aussicht, an der Plünderung von Karnve, der nächstgelegenen Stadt Keldens, südlich von Narvinir, teilzunehmen hatte sie verlockt.
Seine Gedanken schweiften ab und Kolja presste die Fäuste auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. So viele gute Männer! Ein Werk von Jahrzehnten, die „Bergkompanie“ zu gründen und zu dem zu machen, was sie zu ihrem Ende gewesen war. Und es war ein ruhmloses Ende gewesen.
Die Scham darüber brannte in seiner Kehle. Nicht einmal ein gutes Vermächtnis hatte er ihnen gebracht.
Narvinir. Nur deshalb noch frei, weil das felsige Kap, auf dem die Stadt gelegen war, eine landseitige Eroberung fast unmöglich machte. Und seeseitig machten sie ihre Raubflotten unangreifbar. Dass die freie Stadt selbst aber einen Feldzug – mehr einen Raubzug, gestand sich Kolja ein – gegen seinen direkten Nachbarn und die Handelsstadt Karnve gewinnen könnte … leichtsinnig. Da hast du dich vom Gold blenden lassen, alter Mann! Und das nach all den Jahren. Den vielen, vielen Jahren.
Ironisch prostete er dem Mond zu und trank.
Aber es hätte ja auch klappen können, verdammt! Dass die nahgelegene Stadt Tausen seine Interventionsflotte rechtzeitig an den Eingang zum Friedmeer, dem Fjord vor dem Flussdelta bei Karnve, geführt hatte, sprach für die Spione des Königs von Kelden, das musste man zugestehen. Und ohne die Notwendigkeit, die Abwehranlagen des Hafens zu bemannen, um die Raubflotte abzuwehren, waren die Landstreitkräfte stark genug gewesen, um die Mauern von Karnve zu halten. Die Belagerung war freudlos gewesen und von Desertationen der verschiedenen Söldnergruppen geprägt. Der Weg – die Flucht – zurück nach Narvinir hatte ihrem Heerhaufen dann alles abverlangt. Wenn Kolja an das letzte Rückzugsgefecht, in dem er mit seinem ersten Offizier, Trum Querde, versprengt worden war, dachte, zog sich ihm der Magen zusammen. Der lange Weg an der Küste nach Osten. Trum, der an der schwärenden Wunde in seiner Hüfte gestorben war. Die zwei Nächte in denen er sich um Aldvigrad herum geschlichten hatte – Immer versteckt, immer heimlich. Die Milizionäre, die ihn mehrfach fast aufgestöbert hätten. Die Schreie der Versprengten, die gefunden worden waren. Die Männer, die er hatte töten müssen, Milizsoldaten, Amateure und hilflos gegen ihn. Die langen, kalten, nassen Wochen.
Er trank noch einen letzten Schluck, den Humpen jetzt leer in der Faust, und starrte weiter aus dem Fenster.
Vorbei! Er straffte seinen Rücken und zwang sich zu einem Grinsen, wölfisch und freudlos. Er lebte. Das war gut.
Und seine Suche, der rote Faden seines Lebens, war erfolglos gewesen. Es hatte in Narvinir keine Hinweise auf Horazio gegeben. Wie bisher nirgends.
Den Auftrag für die Kompanie, sinnierte er, hatte er annehmen müssen, um die Mäuler zu stopfen. Und jetzt ging es weiter, allein, aber weiter. In Sorengard.
Ohne besondere Erwartungen streifte er am Tag darauf durch die Gassen der Stadt. Sein oberstes Ziel war es, nicht aufzufallen, insbesondere der Obrigkeit, und so trug er keine sichtbaren Waffen, ließ die Schultern hängen und gab sich als der alte Mann, der er war. Sein langer, grauer Vollbart und der farblose Wollumhang, den er auf dem Markt erstanden hatte, trugen das ihre dazu bei. Er wurde eins mit der Stadtbevölkreung. Es half, dass fast jeder in Sorengard die eine oder andere Art von Mantel oder Umhang trug, denn es war diesig und kalt. Es regnete nicht, aber feine Wassertröpfchen schwebten in einem dicken Nebel durch die Stadt und setzten sich auf seinem Mantel ab, ohne ihn jedoch zu durchdringen. Kolja wanderte, und beobachtete.
Die Stadtwachen wirkten entspannt, die Städter arbeitsam und zuversichtlich. Offenbar war der kurze Sommer einträglich gewesen und die Vorratskeller und Lagerhäuser waren voll. Der Winter konnte kommen. Auf dem Markt hatte er viele regionale Waren gesehen, aber nur wenig Exotisches aus dem Seehandel. Sorengard machte dem Ruf Isnirs alle Ehre: es war bodenständig, seegebunden und rau. Erzeugnisse aus Wolle und Holz waren billig, Werkzeuge aus Metall, oder gar Waffen recht teuer und Fisch bekam man fast geschenkt.
Kolja wollte sich gerade durch die Tür eines kleinen Gasthauses am Marktplatz ducken, als er ein Gedränge hinter sich wahrnahm und drehte sich um. Gerade rechtzeitig, um die Prozession zu sehen, die in diesem Moment eine Straße herauf kam. Eine Straße, die, wie er mittlerweile wusste, vor der Königsburg am Hafen endete. Von dort kam ein gutes Dutzend Berittene, die zwei zuvorderst und der Letzte im blau-grauen Livree der Burgwachen und dazwischen eine Gesandtschaft in braunen Kutten. Die zentrale Figur dieser Prozession aber war ein dürrer Mann mit kantigem Gesicht, eine rote Schärpe um die Hüfte … Scheiße! Kolja duckte sich und wandte den Blick ab, um selbst nicht gesehen zu werden. Rogarra!
Der Bastard von Hochinquisitor war in Sorengard?
Kurz erwog er, in das Gasthaus zu verschwinden, doch jede hektische Bewegung konnte ihn jetzt verraten. Er wusste nur zu gut, wie wachsam Rogarra war! Und die Gruppe Berittener war bereits fast auf seiner Höhe! Er konnte sogar die gedämpften Stimmen hören, als der Inquisitor sich mit seinem Nebenmann, einem Ritter vom Hofe König Somers, unterhielt: ‚… war der Verstorbene ein treuer Diener des Ordens. Die Sicherung seines Besitzes, zur Rettung alter Ordensschätze, ist in seiner Wichtigkeit beispiellos für mich.‘
‚Das habt ihr deutlich gemacht, Inquisitor.‘ entgegnete der Mann im Plattenharnisch steif. ‚Seid versichert, es wurde bereits alles zum Kloster …‘
‚Ich möchte nur,‘ unterbrach der Hochinquisitor den Ritter, ’sichergehen, dass wir uns richtig verstehen. Es geht nicht bloß um ein paar Devotionalien mit sentimentalem Wert! Der Großmeister selbst hat mich hierher …‘
Die Stimmen der beiden Männer verloren sich im Hufgeklapper und dann waren sie vorbei. Kolja verschwand in den Gastraum, und setzte sich blind auf den erstbesten freien Platz bei der Tür. Sein Mund war trocken und seine Hände zitterten. Der Inquisitor kam im Auftrag des Großmeisters den weiten Weg von Kolmstein hierher, ins kalte Sorengard? Er trommelt mit den Fingern auf das Holz des Tisches. Konnte es sein? Er selbst hatte Jahrzehnte mit der Suche nach Horazio zugebracht. War er hier gewesen? Was sonst könnte für den Orden so wichtig sein? An diesem abgelegenen Fleck? Ein Mann mit Horazios Reputation hätte überall hingehen können. Und wann war er gestorben? Und wie? Er vergrub das Gesicht in seinen großen Händen. Flüchtig nahm er wahr, dass jemand an seinen Tisch trat und bestellte etwas zu Essen und einen Krug Bier. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er unter Wasser, aber seine Gedanken rasten. Er hatte so viele Fragen, aber er zwang er sich zur Ruhe und lehnte sich zurück. Es galt nichts zu überstürzen. Insbesondere, da er nicht sicher sein konnte, dass der Hochinquisitor und sein Begleiter tatsächlich von dem Gelehrten gesprochen hatten, aber Kolja wusste, er musste nur in die Nähe dieses „Besitzes“ kommen und er würde Gewissheit haben. Nach so vielen Jahren der Wanderschaft! Er schloss die Augen, beruhigte die Geister, die er aufgestört hatte, und lächelte, als er das Klappern eines hölzernen Tellers und eines Humpens hörte.
‚Habt Dank!‘, brummte er und erntete ein scheues Lächeln der Schankmaid. Dann machte er sich ans Essen. Endlich! Nach fast zweihundert Jahren endlich eine neue Spur!
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