Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors

Am Scheideweg


Maelgwn spazierte am Piers entlang und sah den Fischern bei ihrer winterlichen Arbeit zu. Natürlich fuhren sie auch jetzt noch hinaus, solange die Hafeneinfahrt nicht zugefroren war. Aber alles verlief langsamer im Winter. Die kurzen Tage ließen ohnehin nur Ausfahrten zu, die zeitig begannen und genauso zeitig wieder zurück waren. War dann noch ein Netz zu flicken, oder etwas anderes zu erledigen, dann verschob man die Fangfahrt auch gerne auf den nächsten Tag.
Sie wohnten jetzt seit fast einer Woche mit Kolja und Katra zusammen und in dem kleinen Bücherladen war es eng geworden. Natürlich schafften sie Platz, indem sie Bücher verbrannten, aber es war und blieb nur ein einzelner Raum. Sein Vermieter ließ durchblicken, dass er angenommen hatte, Maelgwn wolle eine Buchhandlung und kein Gasthaus führen und Maelgwn hatte ergeben geknickt und die Miete für den kommenden Monat bezahlt. Jetzt hatten sie wieder Ruhe.
Na ja, fast.
Betont unauffällig ließ Maelgwn den Blick an der Mauer des Piers entlangwandern, und atmete erleichtert auf, als er nichts sah.
Gestern Nacht hatte sich ein Attentäter Zugang zum Haus verschafft.
Katra hatte ihn als „Don“ erkannt, eine hinterlistige Missgeburt von einem Schweinearsch – Katras Worte, nicht die seinen – und Kolja hatte die Überreste des Mannes kurz darauf im Hafenbecken entsorgt. Offenbar war er versunken, denn die Leiche war weder zu sehen, noch war sie geborgen worden.
Damit hatte Arek einen weiteren seiner Vertrauten verloren. Eine weitere Stütze seines Einflusses. Dieser Don war wohl für die Straßenkinder, ihre Aufträge und ihren Gehorsam verantwortlich gewesen, wenn er nicht für Arek Menschen umbrachte. Er war gut darin gewesen, und kreativ.
Kolja hatte ihn an einem Fenster abgefangen und erwürgt.
Einfach so.
Es war erstaunlich, wie sich Koljas Gelassenheit in dieser Sache auf seine drei Schützlinge übertrug. Nach einiger Verwirrung und Unruhe hatte Kolja sie wieder ins Bett geschickt.
Ins Bett geschickt! Maelgwn schüttelte den Kopf.
Man musste die Sache wohl positiv sehen.
Arek verlor Männer und würde die Jagd sicher bald einstellen, das war zumindest Maelgwns Meinung. Katra hatte ihn ausgelacht. Ein Mann in Areks Position konnte es sich nicht erlauben, diese Sache auf sich beruhen zu lassen, war ihre Meinung und Kolja schien ihr zuzustimmen.
‚Er ist eigentlich kein Geldverleiher. Damit fängt er nur
Dass Maelgwn jetzt alleine spazieren gehen konnte, war ein Zugeständnis von Kolja.
Der hatte die Lage abgewogen und beschlossen, dass sie mit Arek und seiner Bande noch nicht so weit waren, dass Mordanschläge am helllichten Tag zu erwarten waren.
Maelgwn dämmerte: Kolja hatte das alles schon einmal erlebt. Wie er alles schon einmal erlebt zu haben schien.
Über seine Schulter war das Antiquariat kaum noch zu erkennen.
Dort waren Koron, Katra und Kolja. Der junge Mann und das Mädchen hingen an Koljas Lippen, vor allem Koron, jetzt, da er mit seinem Handwerk gebrochen hatte. Vor zwei Tagen hatte sein Jugendfreund vor dem großen Krieger das Knie gebeugt und ihn gebeten, ihn zu lehren.
Maelgwn hatte noch die erstaunten Gesichter in Erinnerung.
Kolja hatte grimmig und ablehnend reagiert, aber auf Korons Bitten hin schnell eingelenkt.
Maelgwn wusste nicht, woher er den Verdacht nahm, aber Kolja trug schwer daran, ein Anführer zu sein.
Keinen Glockenschlag später hatte Katra dasselbe getan. Jetzt saß ein unglücklicher Kolja mit seinen zwei Schülern im Laden und beantwortete geduldig Fragen. Für einen schlechten Lehrer machte er das sehr gut.
Maelgwn hatte frei.
‚Er hat schon zu viele Gefolgsleute und Freunde sterben sehen.‘
Maelgwn blinzelte, aus seinen Gedanken gerissen, verwirrt umher. Dann fiel es ihm wieder ein und er schalt sich einen Narren – Das Medaillon.
‚Soll ich dir ein wenig über ihn erzählen? Ich denke, wir reisen noch eine Weile zusammen.‘
Morion klang ungezwungen.
Maelgwn zögerte.
‚Wieso sollten wir zusammen reisen? Wir haben kein gemeinsames Ziel!‘
‚Nein?‘ hörte er die verwunderte Stimme der Seele, ‚Aber ihr habt keinen Ort, an dem ihr bleiben könnt. Dieser Disput mit diesem Geldverleiher wird nicht schöner, sondern brutaler und hässlicher werden. Selbst wenn ihr aushaltet, die Männer, die jetzt bereits gestorben sind, haben die Wache bestimmt schon aufmerksam gemacht. Irgendwann wird der Stadtvogt der Sache auf den Grund gehen wollen, und dann nimmt diese Sache hier ein Ende. Bis dahin seid ihr hoffentlich weit weg oder politisch gefestigt genug, um dem Vogt die Stirn zu bieten …‘ Morion lachte leise in seinen Gedanken, fuhr aber ernst fort: ‚… oder ihr endet am Strang. Oder wie auch immer man hier Mörder und Verbrecher bestraft.‘
‚Man versenkt sie, mit einer Kette beschwert, im Schuldloch. Am Ende der Hafenmauer. Manche lässt man vorher eine Weile in den Käfigen darüber sitzen. Nackt.‘ Maelgwn verstummte.
Bilder der Verbrecher, deren Schicksal er mitangesehen hatte, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. ‚Es ist nie besonders warm, hier in Sorengard.‘ erklärte er dann, ‚Darum sind sie nackt.‘
‚Ich verstehe.‘
Maelgwn schwieg wieder und dachte nach. Er dachte an seine Kindheit im Kloster, seine Jugend mit Gariar, das Antiquariat und die ständige Angst und Sorge seitdem. Und an ihre jetzige Situation.
‚Was also ist unser gemeinsames Ziel?‘ fragte er dann.
‚Die Stadt Mornvyr. Den Godemorderen vernichten. Und danach den Orden.‘
Maelgwn stolperte und biss sich auf die Zunge.

‚Kor, wir müssen uns von den anderen trennen.‘ sagte er später.
Abgelenkt hantierte sein alter Jugendfreund mit einem Dolch, den ihm Kolja geliehen hatte und wechselte immer wieder die Griffhaltung. Die schmale, beidseitig geschliffene Klinge beschrieb Halbkreise – Hammergriff, umgekehrter Griff, Fechtgriff, wieder umgekehrter Griff, die Klinge am Unterarm verborgen, dann wieder alles von vorne.
Er übte mittlerweile ständig irgendwelche Dinge, die ihm der alte Krieger gezeigt hatte. Heute Morgen hatte er mit einem gebogenen Draht im Schloss einer alten Truhe herumgestochert, von der Maelgwn gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Vielleicht hatte sie dem Vormieter gehört? Oder dem Besitzer des Hauses?
Er war bewundernswert geduldig bei diesen Übungen.
Er bemerkte, dass Koron seinen Dolch zur Seite gelegt hatte und ihn jetzt ansah.
War er lange in Gedanken gewesen?
‚Warum sollten wir uns trennen wollen, Mael?‘
‚Weil sie verrückt sind!‘ flüsterte Maelgwn. Er hatte das Amulett an der Eingangstür abgelegt und Kolja und Katra waren unterwegs. „Aufklären“ hatte Kolja gesagt.
‚Weißt du, was sie vorhaben? Weißt du, was ihr Ziel ist?‘ Maelgwn musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. ‚Du meinst, du hast einen tollen Meister gefunden, aber was weißt du denn über ihn?‘
‚Wenig.‘ Gab Koron zu, ‚Und damit kommst du jetzt? Als ich vor ein paar Tagen Angst um meine Seele hatte, da hast du dagestanden als könnte dich nichts erschüttern. Du hast mich angesehen, als wäre ich eine zarte Jungfer und jetzt plötzlich wird dir mulmig?‘
‚Sie wollen den Godemorderen töten!‘ widerwillig sah Maelgwn die Wahrheit hinter den Worten seines Freundes, aber dennoch! ‚Das ist Wahnsinn! Seit Jahrzehnten sterben in den Sümpfen Leute durch die Horden und niemand war jemals in seinem Heiligtum!‘
‚Doch. Der Meister und Morion.‘ Koron war ganz ruhig. ‚Sie waren dort, bevor Noi-rhom zum Godemorderen wurde. Und, dass sie ihn töten wollen, …‘ Er zuckte die Schultern, ‚… das weiß ich. Der Meister hat es uns gesagt.‘
Maelgwn runzelte die Stirn, ‚Du nennst ihn Meister?‘
‚Ja, klar. Ich lerne von ihm, also ist er der Meister.‘
Maelgwn war sprachlos. War das sein Ernst? Einen wildfremden Kerl Meister zu nennen? Einen Mörder, der kaltblütig Leute erschlug und erdrosselte?
‚Wie war das mit dir und Gariar?‘ fragte Koron ganz nebenbei. Er hatte den Dolch wieder aufgenommen und malte weiter Formen in die Luft.
Dieser bauernschlaue Mistkerl!
‚Ich habe ihn Magister genannt.‘ knirschte Maelgwn, ‚Zumindest solange ich in der Lehre war.‘
‚Und als Zimmermann habe ich meinen Meister, Meister genannt.‘ er nickte ihm zu, ‚Gut, dass wir das geklärt haben.‘
‚Und das soll alles sein? Du weißt Bescheid, was ihr Ziel ist und das ist einfach so okay für dich? Was, wenn du dabei stirbst?‘
‚Hörst du mir eigentlich manchmal zu, Mael?‘
Korons Stimme klang hart. Er hatte den Dolch wieder sinken lassen und sah Maelgwn nun direkt an.
‚Was meinst du?‘ stotterte Maelgwn.
‚Ich habe dir erzählt, dass es mich in die Fremde zieht. Dass ich ein Soldbursche sein, die Welt kennenlernen möchte und mich selbst. Ich will mehr sein, als Koron der Zimmermann und ich will mehr sehen, als das alte, kalte Sorengard.‘
Er lächelte Maelgwn freundlich an, doch seine Augen glitzerten hart.
‚Stell dir vor: Wenn man so etwas tun möchte, dann ist man ohne einen Lehrmeister und ohne Anleitung viel schneller tot. Und doch wäre ich gegangen. Außerdem hätte ich auch für dich gegen Arek gekämpft! Auch nicht gerade sicher, oder?‘ Er schnaubte belustigt, ‚Sie haben ein Ziel? Sehr gut! Ich nicht! Zu allem Überfluss wäre es nobel, den Nekromantenkönig zu töten. Es wäre eine gute Tat, eine Heldentat!‘
Sein Blick wurde weicher und Maelgwn wappnete sich innerlich.
‚Du warst in deiner Bibliothek. Hast deine Lehre gemacht. Und dann hattest du mehr als genug eigene Probleme mit dem Antiquariat und den Schulden …‘ er schnitt eine Grimasse, ‚Wir haben uns nicht viel gesehen und wenig miteinander gesprochen. Du weißt eigentlich gar nichts, über mein Leben. Wenn wir uns gesehen haben, ging es immer um dich und deine Sorgen. Das war in Ordnung!‘ Koron hob entschuldigend die Hände, ‚Aber jetzt geht es nicht nur um dich. Wir können jetzt beide entscheiden, wie es weiter gehen soll. Jeder für sich. Und ich, für mich, möchte bei den anderen bleiben. Abspringen kann ich später immer noch.‘
Maelgwn sah ihn lange an. Dann drehte er sich um und ging.
Hinter ihm nahm Koron den Dolch wieder auf, ein trauriges Lächeln auf den Lippen.

Ziellos lief Maelgwn durch das Gewirr der Stadt und versuchte zu verstehen, wie er sich fühlte. Er war nicht wütend. Auch nicht auf Koron.
Er fühlte, nichts. Er war leer. Und sehr müde. Die letzten Tage war so vieles passiert, dass er kaum einen Gedanken hatte fassen können. Er hatte letzte Nacht einen Mann sterben sehen und zugesehen, wie die Leiche entsorgt worden war. Weggeworfen. Wie Müll. Seine Geldsorgen hatten sich nicht in Luft aufgelöst, und sein Leben war jetzt vielleicht mehr in Gefahr denn je, aber Arek erschien ihm auf einmal nicht mehr wie die größte Bedrohung. Was Morion ihm erzählt hatte, war ungeheuerlich! Aber es war auch etwas, das Maelgwn noch nie so wirklich gefühlt hatte. Morion war entschlossen! Es war ein Plan, wider besseres Wissen. Selbstmord! Aber es war eine bewusste Entscheidung. Es war nichts, das Morion oder Kolja einfach passieren würde – Egal, wie es ausging. Sie waren keine Figuren, die jemand anderes setzte in einem Spiel, dass nur der Spieler verstand. Doch genau so hatte er, Maelgwn, sich gefühlt. Schon immer.
Den Kopf zwischen den Schultern bog er wahllos ab. Bloß nicht stehen bleiben! Bleib in Bewegung, nicht nur mit den Füßen. Halt die Gedanken in Bewegung!
Was war mit seinem eigenen Leben? Er war die meiste Zeit seines Lebens Umständen ausgeliefert gewesen. Nicht, dass diese Umstände immer schlecht für ihn gewesen wären, gestand er sich ein, aber dennoch. Seine Eltern waren fort. Er war ein Waisenkind gewesen, aber er erinnerte sich nicht daran, auf der Straße gelebt zu haben. Früh hatte man ihn im Kloster aufgenommen und dort unterrichtet. Dann hatte Gariar ihn zu sich genommen und ihn gelehrt.
Nach einem schmalen Durchgang am Ende einer kleinen Gasse schlüpfte er wieder auf eine größere Straße, ging auf in der Menge und hob kaum den Blick, um sich zu orientieren.
Er hatte das mit Gariar nie entschieden, denn es hatte sich richtig angefühlt. Zu guter Letzt war sein Lehrer gestorben und er war zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Wie das geendet wäre, hatte er in seinen Träumen gesehen. Dort hatte er bereits bis zu den Knien im salzigen, kristallinen Matsch der Salzfelder gestanden, sommers wie winters, mit aufgeplatzter Haut und entzündeten Gelenken. Er hatte sich dort sterben sehen, die sengende Hitze der Sonne, die seinen Rücken verbrannte. Oder die beissende Kälte des Winters, die seine Beine und alles andere blau anlaufen ließ, bis ihn die Kräfte verließen und er starb.
Er war jetzt vogelfrei. Ein flüchtiger Schuldner aber, wie offiziell war seine Schuld überhaupt? Gab es ein Schriftstück dazu in der Amtsstube des Stadtvogts? Er wusste, dass es solche Schriftstücke gab, dass es sie geben musste für eine Verurteilung von Amtes wegen. Er konnte sich immer noch Arek ausliefern, aber er bezweifelt, dass seine Schuld öffentlich registriert war. Und was würde er am Ende damit erreichen? Dem Recht Genüge tun?
Er hatte Katra kennengelernt und gehört, welchem Geschäft Arek tatsächlich nachging. Konnte er immer noch annehmen, dass es „Recht“ wäre, sich diesem Mann zu beugen, dem er in die Falle gegangen war?
Sollte er sich nicht dagegen auflehnen? Auch, wenn ihn gerade das vor der Obrigkeit Sorengards und ganz Isnirs zum Verbrecher machte? Arek war ein angesehener Bürger der Stadt, er wusste das. Die dunklen Seiten des Mannes war weniger bekannt, oder wurden geflissentlich übersehen. Sollte er seine Rolle in diesem Spiel weiterspielen? Der Einsatz war sein Leben, und gewinnen war für jemanden wie ihn nicht vorgesehen. Sollte er?
Er blieb stehen. Der Knoten, den er in seinem Kopf gespürt hatte, war verschwunden. Ich werde mich keinem Unrecht beugen, dachte er bei sich. Wenn sie ihn wollten, dann mussten sie ihn holen! Auch wenn das Ergebnis das Gleiche wäre, der Weg war es, der zählte.
Er blickte auf und sah vor sich eine leere Straße, eine Mauer und die Dächer der Klostergebäude. Und das Haupttor, dass sich gerade öffnete. Maelgwn hörte Hufe auf Stein, er sah Pferde, Reiter. Er sah berobte Männer mit den Schärpen der Inquisition.


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