Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors

Von der Straße


Das kleine Mädchen hatte gesagt, ihr Name sei Katra. Jetzt saß sie vor dem warmen Kamin, die Augen misstrauisch zusammengekniffen und beobachtete die drei Männer. Sie war Wärme nicht gewohnt. Maelgwn erkannte das. Sie hatte die Lumpen, mit denen sie Kopf und Hals umwickelt hatte, umständlich, mit einer Hand, abgewickelt und hielt sie jetzt fest umklammert. Wie jemand, der wusste, dass einem alles gestohlen werden konnte, egal, wie wertlos es auf den ersten Blick erschien. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. Zunächst hatte sie nur in der Tür gestanden, bereit, jederzeit Reißaus zu nehmen, aber, nachdem Kolja entdeckt hatte, dass an ihrer linken Hand Blut herabtropfte, war alles sehr schnell gegangen. Mit barschem Ton hatte er sie nach drinnen beordert und sie hatte den kleinen Kopf geneigt und war eingetreten. Jetzt versorgte Kolja die hässliche Verletzung. Der linke Unterarm war bis auf den Knochen aufgerissen – Eine Nagelkeule, vermutete Maelgwn. Irgendjemand hatte versucht, ihr den Schädel einzuschlagen und sie hatte sich geschützt und ihren Arm dabei geopfert. Es musste sehr schmerzen, da war sich Maelgwn sicher, doch sie zuckte mit keiner Wimper.
Sie hatte keine echte Chance, schätzte er. Auch wenn Kolja einen ganzen Stapel Bücher gleichzeitig in den Kamin geworfen, und einen Topf mit Wasser abgekocht hatte, stand fest, dass sich die Wunde entzünden würde. Es würde hässlich werden, bevor sie qualvoll starb. Sie verstand das. Ihre Augen verrieten es.
‚Geht es?‘ brummte Kolja, während er die Wunde mit den bloßen Fingern inspizierte und Blut ungleichmäßig auf den Boden tropfte. Ihren Arm hatte Maelgwn über dem Ellenbogen abgebunden, was ihm ein anerkennendes Nicken von dem riesenhaften Mann eingebracht hatte, und jetzt drückte Kolja auf der Wunde herum. Dreck und Umgebungsgifte aus den eingebluteten Taschen, die sich unter ihrer Haut gebildet hatten, quollen nach draußen.
Die Kleine nickte stumm, den Kiefer angespannt, dass man die Zähne knirschen hören konnte. Schweiß tropfte von ihrer Nasenspitze. Dann wurde sie ohnmächtig.
Kolja war bereit, denn er fing sie ohne Mühe auf und bettete sie auf seinen Schoß. So groß war er, und so klein war sie, dass er sie ohne weiteres halten konnte. Er hielt seine rechte Hand über ihren Arm, schloss die Augen und vor Maelgwns und Korons ungläubigem Blick bildeten sich auf ihrem Unterarm kleine Blasen, die nach einander aufplatzten. Zähflüssige Tropfen einer brauen Masse traten durch die Verletzungen nach außen und sammelten sich zu einer kleinen Kugel unter Koljas Handfläche. Er betrachtete das Gebilde kurz, dann schleuderte er es in den Kamin. Noch einmal wiederholte er die Geste, das Feuer im Kamin wurde dunkler, dann wieder heller. Katras Arm erschien Maelgwn mit einem Mal sauberer, als davor und ein feiner Staub schwebte vor Koljas Hand, der sich in diesem Moment zu einer weiteren Kugel verdichtete und ebenfalls beiseite geworfen wurde.
‚War das Zauberei? Habt ihr die Wunde gereinigt?‘, fragte Maelgwn atemlos. Es überraschte ihn, wie wenig es ihn berührte, diese Blasphemie beobachtet zu haben. Er war fasziniert.
‚Ja, die Wunde ist sauber. Zumindest der Schmutz ist draußen. Aber nein, keine Zauberei.‘ Kolja wischte sich die Hände an einem heißen Tuch ab und begann dann, den kleinen Unterarm mit einem anderen, abgekochten Tuch zu verbinden. ‚Magie.‘
Maelgwn wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er hatte in seinen Studien fast alles gelesen, was man über die Welt lesen konnte, doch Bücher über Magie waren vom Orden streng verboten, da sie eine Gefahr für die zivilisierte Welt darstellen. So hieß es zumindest.
‚Zauberei sind Taschenspielertricks.‘ erklärte Kolja. ‚Im Grund geht es darum, mit geringem Aufwand und Täuschung etwas wie Magie aussehen zu lassen. Magie ist, nun ja.‘ Er blickte auf und begegnete Maelgwns Blick, ‚Magie halt. Geistsehen. Geistformen. So etwas.‘ Er schürzte die Lippen. ‚Ich bin kein guter Lehrer.‘
Damit kümmerte er sich weiter um Katra und bette sie auf Maelgwns Lager, unter dem Tisch. Fast hätte Maelgwn protestiert. Das Mädchen stank. Vor allem jetzt, wo sie vom Feuer gewärmt war, stank sie nach Schweiß, Unrat und Fäkalien.
Niemand von ihnen roch wirklich gut, aber dieses Mädchen musste unter den schlimmsten Umständen leben.
‚Kein guter Lehrer?‘ hörte er Koron gerade, ‚Und was war das vorhin mit „Thautamurgie“ und so?‘
‚Nur etwas, das ich auswendig gelernt habe.‘ entgegnete Kolja abgelenkt.
‚Warum erzählt ihr uns das alles?‘ wollte Maelgwn wissen, ‚Wir könnten euch verraten! Ihr seid ein Häretiker. Wir sollten euch verraten!‘
‚An den Orden?‘ fragte Kolja ruhig, ‚Natürlich könntet ihr das. Aber Hochinquisitor Rogarra ist nicht für seine Geduld, oder seine Nachsicht, bekannt. Ihr seid Mitwisser!‘ Er faltete die Hände und sah sie mit schief gelegtem Kopf an und lächelte, ‚Vielleicht macht er bei euch eine Ausnahme. Obwohl einer von euch ein Buch von Noi-rhom gelesen hat, und ihr beide von mir und Morion wisst.‘
Maelgwn erkannte dieselbe Argumentation, die er bei Delissa im Kloster verwendet hatte und ließ nur stumm den Kopf hängen. Aber Koron, neben ihm, begehrte wütend auf! Maelgwn hörte gar nicht zu. Er ging hinüber in die Ecke, in der er das Buch des großen Nekromanten versteckt hatte, holte es hervor und betrachtete es. Es hatte ihm die Augen für eine Welt geöffnet, die so anders war, als er sie kannte. So anders, und so viel freier. Noi-rhom war dafür getötet worden, hatte Kolja gesagt, und doch verbreitete er als Godemorderen seit Jahrzehnten Angst und Schrecken. Maelgwn wusste nicht, wie das zusammenpasste, aber er wollte es wissen. Er war bereit gewesen, sich dem Schicksal eines Schuldsklaven zu beugen, doch jetzt? Jetzt war alles wieder offen, bloß, das er den weiteren Weg nicht erkennen konnte. Er hatte den Pfad eines normalen Lebens verlassen. Er konnte sich immernoch der Obrigkeit unterwerfen und wahrscheinlich sterben, aber jetzt wo es soweit war regte sich, ja, was? Trotz?
Als er zum Kamin zurückkehrte, war zwischen Koron und Kolja Stille eingetreten und Koron betrachtete betreten seine Stiefel. Er sah fragend zu Kolja und hielt ihm die offene Hand entgegen.
‚Wenn ihr uns nicht töten wollt, um euer Geheimnis zu wahren, dann gebt mir das Amulett. Ich habe … Fragen.‘
Kolja neigte zustimmend den Kopf. ‚Er wollte eh, dass du ihn trägst.‘
Maelgwn lief es kalt den Rücken hinunter. ‚Warum ich?‘ flüsterte er.
‚Weil du mit ihm reden kannst. Und ich bin zu auffällig. Rogarra kennt mich.‘
‚Dann verlassen wir die Stadt?‘
‚Zu spät.‘, die leise Stimme kam von Katra, die die Augen geöffnet hatte. Sie war blass, und atmete flach. ‚Ausgangssperre.‘
‚Eine Ausgangssperre?‘ wunderte sich Maelgwn. ‚Das wird König Somers nicht zulassen. Der Handel ist wenig, im Winter, aber Geld ist Geld.‘
Kolja schüttelte den Kopf.
‚Der Orden schützt Isnir vor den wandernden Horden aus den Rhomer Sümpfen. Es kostet den König viel mehr, wenn er selbst Truppen mobilisieren muss. Da wird er auf ein bisschen Zoll, Zehnt und Steuern verzichten können. Isnir war schon immer pragmatisch.‘
Maelgwn kaute auf seiner Unterlippe.
‚Und du?‘ fragte er Katra. ‚Was machst du hier?‘
‚Ich war verletzt …‘ fing das Mädchen ausweichend an, aber Maelgwn schüttelte den Kopf.
‚Verletzte werden auch im Kloster versorgt. Vielleicht bist du dort besser aufgehoben …‘
‚Ich gehe nicht ins Kloster!‘ schüttelte sich die Kleine, um dann mit einem Stöhnen zurück auf das Lager zu sinken. ‚Kinder verschwinden da!‘
Aus den Augenwinkeln konnte Maelgwn sehen, dass Kolja den Kopf hob und zustimmend nickte. Was?
‚Im Kloster verschwinden keine Kinder!‘ Er und Koron wechselten einen Blick. Sein Freund sah ebenso fragend aus.
‚Doch, immer wieder werden Kinder in das Kloster geholt und dann sieht man sie nie wieder!‘
‚Manche werden in anderen Klosterschulen untergebracht, wenn hier kein Platz für sie …‘ Aber Katra schüttelte nur langsam den Kopf.
‚Sie verschwinden.‘ flüsterte sie. Dann sah sie auf, mit seltsam glasigen Augen. ‚Don hat mich geschlagen. Weil ich Arek nicht verraten habe, wer Orin und Bakke getötet hat. Jetzt kann ich nirgends mehr hin.‘

Später, als Katra schlief, saßen die drei Männer wieder zusammen am Kamin. Koron hatte auf dem Markt einen Schinken, geräucherten Fisch und Brakenbrod gekauft, ein hartes und sehr salziges Weizenbrot, und sie aßen schweigend. Sie hatten das Thema um die Straßenkinder nicht weiter vertieft, und Maelgwn war ein mulmiges Gefühl geblieben. Als hätte das Mädchen einen Zweifel angerührt, der bereits in ihm geschlummert hatte.
Ich kann es aber nicht benennen, dachte er bei sich und spülte das salzige Brot mit ein wenig Wasser hinunter.
Aber was auch immer die Fragen, die sich aus Katras Anschuldigungen ergeben hatten, für ihn bedeuteten, wenn überhaupt, sie mussten warten. Es gab drängendere Probleme.
‚Ihr sagt also, dass ihr gesucht werdet. Und dass der Hochinquisitor euch in einen Kerker steckt, oder Schlimmeres, wenn er herausfindet, dass ihr hier seid?‘
Kolja kaute ruhig weiter, schluckte dann und trank selbst einen kleinen Schluck Wasser. ‚Das trifft es. Ja.‘ Er schnitt sich noch ein Stück von dem Schinken ab. Sein Handmesser war klein und dünn und von erlesener Schönheit, ein Griff aus Horn, mit einem Quarzstein als Abschluss und einer irisierenden Klinge, die wie Wasser schimmerte.
‚Kerker ist aber unwahrscheinlich. Ich erwarte auf jeden Fall Schlimmeres. Unsere gemeinsame Geschichte ist lang.‘
‚Und ihr sagt auch, dass Arek noch nicht mit uns fertig ist?‘ hakte jetzt Koron nach.
‚Wohl kaum. Seine Dummköpfe sind tot. Er weiß nicht, wie sie gestorben sind, aber ihr letzte Auftrag war, unseren gemeinsamen Freund hier …‘ dabei zeigte er auf Maelgwn. ‚… zu holen. Und sie kamen nicht zurück. Für ihn wird es wahrscheinlich sein, dass ihr etwas damit zu tun habt. Das kann er schlecht auf sich sitzen lassen.‘
Maelgwn hob eine Augenbraue. Seit wann waren sie Freunde geworden?
‚Das heißt, wir trennen uns? Jeder kümmert sich um seine eigenen Probleme?‘ überlegte der junge Zimmermann laut und sah dabei alles andere als glücklich aus.
‚Wohl kaum. Mein wichtigstes Ziel, die letzten … ähm, Jahre, war, Morions Seele zu finden.‘ Er faltete die Hände über dem massigen Bauch, doch Maelgwn spürte, dass die Geste trog. Kolja war angespannt. Sehr sogar.
‚Morion möchte bei euch bleiben. Bei Maelgwn, heißt das. Und ich werde ihn nicht noch einmal verlieren! Außerdem sind eure Chancen besser gegen diesen Arek, wenn ich bei euch bin.‘
‚Warum will dieser Morion, dass Maelgwn ihn trägt?‘ Koron säbelte nun selbst an dem Schinken und benutzte dafür ein Arbeitsmesser von seinem Gürtel.
‚Er kann ihn hören.‘ erklärte Kolja geduldig, und zum wiederholten Male. ‚Das ist bereits eine große Leistung. Normalerweise muss man ein initiierter Geistseher sein, um die Stimme einer Seele zu hören. Also…‘ Kolja räusperte sich, ’so die Theorie.‘
‚Was soll das heißen? Warum nur in der Theorie?‘
‚Weil es praktisch nie erprobt wurde.‘ Kolja scharrte unruhig mit dem großen Fuß auf dem Boden herum, ‚Körperlose Seelen sind nicht gerade normal. Eher… sehr unnormal. Unmöglich, könnte man sagen.‘
Er sah Maelgwn und Koron unzufrieden an.
‚Das hier ist magisches Neuland! Der Körper stirbt, die Seele vergeht. Was mit ihr passiert, weiß niemand. Eine Seele sollte ohne Körper nicht existieren. Aber Morion existiert. Es ist ein Rätsel.‘
‚Und warum ist seine Seele in einem Medaillon?‘
‚Das fragen wir ihn besser selbst! Er ist der Gelehrte.‘ wich Kolja der Frage aus und stand dann auf, um nach dem Mädchen zu sehen. Maelgwn und Koron sahen ihm nach und beiden kam der Gedanke, dass der Krieger vor ihren Fragen geflohen war.


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