Matze Steinbeißer

Gehversuche eines Fantasy-Autors

Maelgwns Reise – Die Bücher aus Bansa I


  • Prolog

    Er betrachtete sein Schwert. Und seine Männer betrachteten ihn.
    Ein Bein vor sich auf einen abgetrennten Kopf gestellt, ließ er den Blick über seine Klinge wandern und zwang die Erschöpfung von seinen Zügen. Sein Schwert war schartig und verschmiert. Genauso wie er selbst. Die Männer seines Kommandos, die noch lebten, mussten denselben Eindruck von ihm als Person haben, wie er von seiner Klinge: Von den besten Schmieden des Landes aus Material gefertigt, selten und kostbar. Ein Tötungswerkzeug, erhoben zu etwas Wunderschönem, doch jetzt verbraucht und hässlich werdend. Noch konnte man einen Teil der Pracht erkennen, die beide, Schwert und Krieger, in ihrem besten Zustand ausgestrahlt hatten. Doch die Flamme flackerte. Das Licht war bedroht. Seine Rüstung sah aus, als hätte er sich in Schlamm und Schlimmerem gewälzt und sein linker Schulterschutz hing nur noch an einem einzelnen Lederriemen.
    Der in Fetzen hängende Rest seines Wappenrocks, in den Farben seiner Familie, Blau und Gold, hing schwer von Flüssigkeiten von seinen Schultern, doch er widerstand dem Drang, ihn herunterzureißen. Es waren die Farben seiner Familie! Er würde sie bis in den Tod tragen. So, wie es auch seine Soldaten tun würden.
    Er wandte sich dem kleinen Haufen zu und zwang sich zu einem wilden Grinsen.
    Nur noch zwölf! Von ehemals sechsundfünfzig Mann, ein jeder von ihnen ein Veteran und ein treuer Freund.
    ‚Es ist so viel einfacher, totes Fleisch zu schneiden, nicht wahr? Es ist so weich!‘
    Ein paar seiner Männer schlugen auf ihre gesplitterten Schilde. Ein paar spuckten aus. Ihnen allen lag der Übelkeit erregende Geschmack der Verwesung im Mund.
    Er besah sich noch einmal sein Schwert, befühlte die schartige Schneide und wünschte, es wäre Blut, das auf dem Stahl glänzte. Aber in ihrem Feind gab es kein Blut mehr.
    ‚Es sind einfach zu viele …‘ hörte er einen Mann murmeln und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Truppe. Er sah die giftigen Blicke und die Ellenbogenstöße, mit denen seine Kameraden den Zweifler bedachten und lächelte. Sie standen auf verlorenem Posten, das wussten sie alle. Aber niemand wollte es ausgesprochen hören. Ihre Disziplin forderte, dass sie selbst jetzt nicht in Kauf nahmen, offen über etwas zu sprechen, das die eigene Moral, den eigenen Kampfeswillen, untergraben könnte.
    Der Gemaßregelte, ein erfahrener Krieger seines Kommandos und ohne Fehl und Tadel, sah peinlich berührt aus und senkte entschuldigend den Kopf, bevor er die einhändige Streitaxt hob und auf ein Rundschild schlug. An den Rändern war der Schild ausgefranst und splitterig.
    Waren sie nicht ein müder Haufen? Nur einen halben Tag zuvor hatten ihre Kriegsschreie den Boden erbeben lassen und sie hatten sich mit Prahlereien ihrer Taten gegenseitig zum Lachen gebracht. Und jetzt war es da. Das vermeintlich glorreiche Ende.
    Der schmale, gemauerte Gang unter der versündigten Stadt Mornvyr, dem Versteck von Noi-rhom, war verstopft mit Leichen. Krieger in Blau und Gold stapelten sich mit den zerhackten Überresten der Untoten. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Toten wieder auferstehen würden, denn die Reichweite und Macht des Godemorderen war hier, in seiner unterirdischen Festung und dem Herzen seiner Macht, ungebrochen.
    Willem Hobs, genannt Keilerkarl, Freiherr von Lauwenstein, führte ein paar Probeschwünge mit seinem beschädigten Schwert aus. Er registrierte das Stechen in seinem überlasteten Ellenbogen. Dann ein Warnruf. Schlurfende Schritte aus der Dunkelheit. Es galt! Sie mussten es schaffen! So vieles hing davon ab.
    Sie mussten den Godemorderen töten. In mehr als 150 Jahren war niemand so weit gekommen wie sie. Es musste gelingen!


  • Maelgwn I

    Es war Jahre her, dass Maelgwn etwas Anständiges zu essen gehabt hatte. Zumindest kam es ihm so vor. Dabei: Er hatte das Geschäft – wann? – vor 10 Monaten eröffnet?
    Lustlos saß er unter einem Tisch in seinem Antiquariat, der ihm als Höhle und Schlaflager diente, nagte an dem Stück harten Brotes, das er noch in seinem Korb gefunden hatte und erwog seine Möglichkeiten.
    Zweimal schon hatten die Schläger von Arek dem Geldverleiher bei ihm geklopft und jedes Mal war ihr Grinsen breiter und ihr Drohen fordernder geworden. Sollte er das Geld vor dem Winter nicht mehr zusammen bekommen, was dann? Sie würden sie ihn als Schuldsklave an den Fischereihafen oder die Salzfelder verkaufen. Und jetzt sandte der Herbst seine Nebelschwaden bereits auf das Meer vor Sorengard und in die Gassen der Stadt.
    Er sah sich in der diesigen Stube um, die sein Laden war, und was er sah, gefiel ihm mit jedem Mal weniger. Es war eine Sache gewesen, ein Antiquariat zu gründen – Und einfach obendrein! Er hatte bereitwillig einen Kredit bekommen, ohne Leumund, Bürgen oder Sicherheiten, und jetzt war ihm auch klar, warum. Das Kreditgeschäft sah überhaupt nicht vor, dass er sein Geld zurückbezahlen konnte. Er musste zum Ende der Gewährung nur gesund sein. Das würde reichen. Ein paar Jahre als Schuldsklave und dann sterben – So würde er seinem Besitzer deutlich mehr einbringen.
    Er schluckte das harte Brot und die Bitterkeit hinunter und angelte sich den Holzbecher mit Wasser, der über ihm auf der Tischplatte stand.
    Ganz davon abgesehen, Sorengard war stolz auf sein Ansehen als raue Arbeiterstadt und Menschen, die bereitwillig alte Bücher verkauften, gab es viele. Aber keine Käufer. Zum Teufel mit diesen Büchern! So viele Bücher hatte er gekauft. In Kisten, Säcken und Stapeln hatte er sie hier hereingetragen und jetzt standen und lagen sie auf Regalen, Schränken, Tischen und Stühlen … und mache auf dem Boden. Und sie setzten Staub an.
    Er seufzte, während er langsam weiterkaute. Viele Möglichkeiten blieben ihm nicht. Er konnte in die Fremde gehen, dem Kredit entfliehen und niemals wieder nach Sorengard zurückkehren. Ihm schauderte bei dem Gedanken. Sorengard war der einzige Ort, den er kannte. Hier war er aufgewachsen.
    Oder vielleicht sollte er versuchen, im Kloster Schutz zu suchen? Arek würde es kaum wagen, einen Angestellten des Ordens in die Sklaverei zu verkaufen, oder doch?
    Allerdings: Gariar war fort, tot. Das hatte vor einem Jahr zu seinem, nun ja, unfreiwilligen Fortgang aus dem Kloster geführt. Es würde ihn, jetzt, wo sein Mentor fort war, kaum jetzt wieder aufnehmen. Gerade nicht, wenn er in finanzieller Not angekrochen kam. Ganz davon abgesehen: Es war ja auch immer noch ein Schwesternkloster! Seine, und Gariars, Anwesenheit war schon damals eine große Ausnahme gewesen.
    Es klopfte an der Tür und er verschluckte sich fast am trockenen Brot. War das ein Kunde? Was für ein komischer Gedanke! Er spülte noch einmal mit einem Schluck Wasser nach und stand dann auf.
    Er ging zur Tür und spähte durch die Ritzen nach draußen. Es neblig und düster. Die Gestalt mit der hochgeschlagenen Kapuze war nur schemenhaft zu erkennen. Aber er erkannte sie.
    Maelgwn atmete auf und entriegelte die Tür. Sofort drängte sich der Mann an ihm vorbei und er spürte die Kälte und Nässe, die er mit hereinbrachte. Er schloss schnell wieder die Tür.
    Als er sich umdrehte, hatte der andere seinen Mantel bereits abgeworfen und schüttelte sich wie ein nasser Hund.
    ‚Das ist so ein widerliches Wetter!‘, schimpfte Koron.
    ‚Was haben wir uns nur dabei gedacht, uns hier niederzulassen?‘, stimmte Maelgwn ihm zu und Koron blinzelte.
    ‚Wir wurden hier geboren, du Dummkopf.‘ brummelte er das Offensichtliche und Maelgwn lächelte. Tiefgründiger, oder feiner Humor war an seinen Freund verschwendet.
    ‚Nimmst du das Wetter denn überhaupt noch wahr? Als Zimmermann bist du doch immer draußen.‘ neckte Maelgwn und Koron verzog angewidert das Gesicht.
    ‚Wir arbeiten auch sehr viel in der Werkhalle!‘ ließ der breitschultrige junge Mann ihn hochmütig wissen, ‚Ich bin es trotzdem verdammt Leid mir den Arsch abzufrieren!‘
    ‚Dann ist es ja gut, dass du es bald zum Vorarbeiter gebracht hast. Weniger Arbeit auf dem Bau.‘ sagte Maelgwn, aber auch hier winkte Koron nur ab, ohne auf die Ironie zu achten. ‚In zehn Jahren vielleicht. Ich bin doch gerade erst Geselle geworden.‘
    Der junge Zimmermann sah sich kurz um, fegte dann beiläufig ein paar Bücher von einem Stuhl und setzte sich. Staub stieg auf. Er flimmerte im diesigen Licht. Maelgwn zuckte ein wenig zusammen. Aus Gewohnheit.
    Die kaufte eh keiner! Schlechte Romane und Gedichtbände.
    ‚Wann hast du das letzte Mal was verkauft, Mael?‘
    Das war es, was Maelgwn an seinem Freund am meisten schätzte. So stumpf und ungebildet Koron bisweilen wirken konnte, auf seine Intuition war Verlass.
    ‚Seitdem du das letzte Mal da warst?‘, antwortete er, ‚Nichts mehr.‘
    ‚Oh Mael, Kumpel! Das ist zwei Wochen her!‘ Koron sprang auf und schritt unruhig durch den kleinen Laden. ‚Lass es gut sein mit dieser Idee! Du machst dich hier kaputt!‘
    ‚Und der Kredit?‘
    Koron schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und starrte ihn an, als hätte er einen Geist gesehen.
    ‚Der Kredit! Verdammt! Das hatte ich total vergessen!‘, er starrte Maelgwn an und seine Kiefermuskeln arbeiteten. ‚Bei wem hast du das Geld eigentlich geliehen?‘ fragte er dann, und Maelgwn flüsterte: ‚Arek.‘
    Sein Freund wurde bei diesem Namen bleich. Doch er sagte nichts mehr.
    Nachdem er ihn eine Weile stumm gemustert hatte, zog er sich seinen Mantel wieder an, nickend.
    ‚Ich komme heute Abend wieder her und wir gehen was trinken! Wir müssen dringend reden.‘
    Ergeben nickte Maelgwn und als sein Freund gegangen war, verriegelte er die Tür. Obwohl die Morgendämmerung gerade erst das Nebelgrau zu durchdringen begann, und zog sich wieder unter seinen Tisch zurück. Er rechnete nicht mit Besuchern und wenn doch, dann mit keinen freundlichen.

  • Maelgwn II

    Es war Mittag und er war es Leid im Laden zu warten.
    Er legte sich den wollenen Kapuzenumhang um, der zur Garderobe eines jeden Sorengarders zu gehören schien und packte eine große Kiste. Mit den interessantesten und am besten erhaltenen Büchern seines Antiquariats ging er hinaus. Er lud sie auf den kleinen, schlingernden Handkarren vor der Tür und trottete los. Sein Ziel war der Markt. Der Marktvogt sah ihn schon von weitem und winkte ihm grinsend zu. Maelgwn bezahlte dem Mann einen Groschen für einen kleinen Platz für den Tag und einen weiteren Groschen Miete für einen hölzernen Tisch. Ein muskulöser Marktarbeiter schulterte diesen und bedeutete ihm vorzugehen. Dann stand Maelgwn an seinem Stammplatz, sah den Städtern bei ihren Erledigungen und Besorgungen zu und ignorierte die verwunderten, mitleidigen oder offen belustigten Blicke der Marktbesucher und der anderen Standbetreiber. Er verkaufte auch heute nichts.
    Nach ein paar aufmunternden Worten seiner Standnachbarin, einer alten Dame namens Silla, die Kräuterabsude und Tinkturen verkaufte, brach Maelgwn den Stand ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Mit hängenden Schultern und hängendem Kopf schlurfte er, den kleinen Wagen hinter sich herziehend, die Straße entlang.
    Er drängte sich gerade durch den Wagenverkehr auf der Hauptzufahrt zum Hafen, wo auch sein Antiquariat lag, da spürte er ein Zupfen an seinem Mantel. Ein Mädchen in der unförmigen Kutte der Klosterschüler stand hinter ihm, einen knitterigen Brief in ihrer Faust. Ihr kleines Gesicht war ganz rot vor unterdrücktem Ärger.
    ‚Du bist aber schwer zu finden!‘ piepste sie, und streckte ihm ruckartig den Brief entgegen, den er verwundert an sich nahm.
    ‚Das tut mir leid!‘ sagte er besänftigend. ‚Ich wusste nicht, dass ich gesucht werde. Sonst hätte ich etwas Bunteres angezogen.‘
    Das kleine Mädchen schnaubte.
    ‚Du bist zu arm für bunte Kleider!‘ schnauzte sie ihn an, machte auf dem Hacken kehrt und verschwand im Gewühl der Straße. Ach, die Ehrlichkeit der Kinder! Maelgwn schmunzelte in sich hinein, als er den Karren wieder aufnahm und seinen Weg fortsetzte. Einen Brief vom Kloster hatte er jetzt am wenigsten erwartet.
    Zu Hause angekommen, verräumte er erst seine Bücherkiste, dann hockte er sich unter den Tisch, um den Brief zu öffnen. Dass er vom Kloster war, war offensichtlich. Auch er und Koron hatten, als sie noch in der Klosterschule unterrichtet worden waren, Botengänge und kleine Arbeiten erledigen müssen.
    Bedächtig faltete er den Brief auseinander und las, dann sah er durch ein staubiges Fenster nach draußen. Details konnte man keine erkennen, aber er konnte sehen, dass es bereits begann dunkel zu werden. Das hieß, bis zum „Abend“ war noch eine Weile hin. Im hohen Norden des Kontinents wurde es gerade in Herbst und Winter sehr früh dunkel und Isnir, das Reich, dessen Hauptstadt Sorengard war, galt als sprichwörtlich dunkel und düster. Der Sommer währte nur kurz und der häufige Nebel tat sein übriges, dass es in Sorengard nie wirklich hell zu sein schien.
    Maelgwn stemmte sich stöhnend vom kalten Boden hoch, klopfte sich den Staub vom Mantel und verließ den Laden. Der Weg durch die schmalen Gassen der Stadt zog sich, denn Maelgwn musste vom hafenseitigen Teil im Norden der Stadt in das frühere Stadtzentrum, und die Gassen der Stadt waren verwinkelt und führten nie direkt dorthin, wo man hinwollte.
    Das Kloster war ein trutziger Bau mit einer Mauer, die es von der Stadt abgrenzte. Es war früher die Kaserne der Stadtwache, oder ein anderes Gebäude der Garnison gewesen – Vielleicht die Kommandantur, überlegte Maelgwn – doch schon seit mehr als hundert Jahren residierte hier ein Schwesternkloster des Ordens. Seitdem hatte man eine Halle der Andacht auf dem Areal errichtet und die alten Stallungen dafür abgerissen. Der Orden, so wusste Maelgwn aus seiner Zeit an der Klosterschule, unterhielt viele Klöster in der Nordhälfte des Kontinents, die größten in Kalm und Altgrund im Nordwesten und Sorengard im Nordosten. Der Hauptsitz aber, die hohe und ehrwürdige Klosterfestung und Hauptsitz der Ekklesiarchie des Großen Geistes befand sich in Kolmstein, im Osten des Kontinents, am Rande der Rhomer Sümpfe.
    Die Kommandantur der Garnison von Sorengard war damals in die Gardeburg umgezogen. Dort hielt auch der Herr von Isnir, König Somers, Hof. Die alte Garnison in der Stadt drohte zu verfallen. Die Gardeburg wiederum überragte das Stadtbild von Sorengard an seiner nördlichen Seite, zur Küste hin. Sie beschützte so mit ihren zwei Ballisten „Der alte Häffner“, einer schweren Belagerungsballiste, benannt nach einem vergangenen König Isnirs, und einem etwas leichteren Gerät, das man nur „Schwerer Bogen“ nannte, den Hafeneingang.
    Maelgwn erreichte das Tor zum Klosterareal, an dem ein Gardist der Stadtwache formeller Weise Wache hielt und überreichte dem Mann den Brief. Das Frauenkloster stand Besuchern nicht zu jeder Zeit offen, zumeist nur an formellen Feiertagen wie dem Tag der Ordensgründung. Dazu gab es noch den Tag der Niederschlagung der Bestie und ein oder zwei weniger wichtigen Anlässe.
    Der Wächter studierte den Brief. Offenbar konnte der Mann lesen. Ein niederer Adeliger? Oder der Sohn eines wohlhabenden Händlers?
    Er nickte brüsk. ‚Soll ich jemanden rufen, der dich zur Ordensbibliothek bringt, oder warst du schon einmal hier?‘, fragte er brummig, aber nicht unfreundlich. ‚Ich finde den Weg, Danke. Ich habe dort meine Lehre gemacht.‘ Die hochgezogenen Augenbrauen des Gardisten verrieten seine Gedanken und Maelgwn beeilte sich zu ergänzen: ‚Ich habe unter Gariar gelernt und gearbeitet. Mit seinem Tod konnte ich nicht im Kloster bleiben.‘ Ich zuckte die Schultern und der Soldat pfiff anerkennend. ‚Der Lehrling von Gariar dem Weiberhelden? Ich wüsste ja gerne, was Du so alles gelernt hast, Junge.‘ Er grinste und zwinkerte Maelgwn zu. ‚Wenn Dir danach ist, lade ich Dich auch gerne mal auf ein Bier ein! Ich und die Jungs haben immer Spaß an ein paar versauten Geschichten! Ich bin übrigens Gerhard.‘ Er salutierte in halbem Ernst. Maelgwn konnte nicht anders als lachen. Er wusste, dass sein alter Freund und Mentor einen Ruf als Weiberheld gehabt hatte und auch, dass die Gerüchte vollkommen aus der Luft gegriffen waren. Gariar war ein Schriftgelehrter vom alten Schlag gewesen und auch wenn er tagein, tagaus nur von Frauen umgeben gewesen war – Er seiner ersten Liebe, der Literatur, immer treu geblieben. Auch Maelgwn hatte diesen „Vorzügen“ des Klosterlebens wenig Beachtung geschenkt, denn er hatte gewusst, dass Gariar daran Anstoß genommen hätte. Dabei war der Orden keinesfalls zölibatär. Doch Ordenschwestern, die ein Kind erwarteten oder erzogen, mussten das Kloster für diese Zeit verlassen, und so zogen nur wenige Schwestern Liebschaften ernsthaft in Betracht.
    Dem Wächter war nicht entgangen, dass Maelgwn in Gedanken war und er winkte ihn vorbei: ‚Du hast zu tun. Vielleicht sieht man sich ja mal in der Stadt!‘
    Er öffnete die eisenbeschlagene Mannpforte. Maelgwn lächelte entschuldigend und trat ein. ‚Ach, und, nur der Form halber: Mach keinen Ärger, während du im Kloster bist.‘ Überrascht sah er den Wachhabenden an. Der wirkte etwa verlegen und Maelgwn erkannte er jetzt, dass der Gardist kaum älter war als er selbst. ‚Tut mir leid. Ich muss das sagen!‘

  • Im Kloster

    Es war schön für ihn, sich wieder im Kloster zu bewegen. So viele Erinnerungen waren mit den Gängen und Winkeln der Anlage verknüpft. Mehrmals begegnete er bekannten Gesichtern, meist freundlich und überrascht, und er wechselte ein paar Worte hier und da. Dann stand er vor der Pforte zur Bibliothek. Von drinnen hörte er Gerumpel und das Klappern von Holz und Metall.
    Er spähte durch die Tür und war überrascht, dass der Quell dieses Lärms eine zierliche junge Frau in den Gewändern der Schwesternschaft war. Sie stemmte sich gerade mit ganzem Körpereinsatz gegen eine Holztruhe, die sich offenbar irgendwo verkeilt hatte. Offenbar versuchte sie, die Truhe in einen Nebenraum zu schieben.
    ‚Ähäm‘, räusperte sich Maelgwn. Keine Reaktion.
    ‚Entschuldigung, bitte!‘
    Der Lärm erstarb. Die Schwester hob den Kopf und sah sich suchend um. Zuletzt blickte sie in Richtung der Tür und zuckte ein zusammen. Mit zusammengekniffenen Augen kam sie auf ihn zu. ‚Maelgwn?‘
    ‚Äh, ja!‘ stammelte er, ‚woher …?‘
    Sie winkte ab. ‚Ein Mann in der Bibliothek? In einem Kloster der Schwesternschaft?‘
    Maelgwn nickte ergeben.
    ‚Hier bin ich.‘ Er ließ ihren Brief auf einen Tisch fallen. ‚Womit kann ich dienen?‘
    ‚Ich bin Delissa.‘ stellte sich die kleine Frau vor und strich sich eine braune Locke, die ihr aus der strengen Frisur gerutscht war, hinter das Ohr. ‚Und ich habe ein Problem mit einer Lieferung neuer Bücher.‘ kam sie gleich zum Punkt. ‚Die Bibliothek ist voll und ich weiß nicht weiter.‘ Sie sah sich unzufrieden um und warf dann die Hände in die Luft. Sie war einen Kopf kleiner als Maelgwn und wirkte in der Bibliothek sehr fehl am Platz.
    ‚Es stimmt ja, ich helfe gerne. Aber die Idee war, den Übergang der Geschäfte hier zu erleichtern.‘ warf er ein. ‚Vor über einem halben Jahr! Und jetzt werde ich gerufen und soll helfen Bücher einzusortieren?‘ Er hob entschuldigend die Hände. ‚Ich helfe natürlich, aber was hat sich geändert?‘
    ‚Was sich geändert hat?‘ grummelte Delissa, ‚Dass ich jetzt hier bin. Seit einem Monat, und davor was der Posten unbesetzt. Man hat mir auch nicht gesagt, dass es jemanden gibt, der mir helfen kann!‘
    Maelgwn sah sich um und bemerkte den Staub, der auf vielen Oberflächen lag.
    ‚Ich kenne Dich nicht.‘ hob Maelgwn an, ‚Woher kommst du?‘
    Delissa verdrehte die Augen und deutete auf die Kiste: ‚Komm. Hilf mir! Reden können wir währenddessen.‘

    Es dauerte lange, die vielen Kisten aus einem Abstellraum in der Nähe in die Bibliothek zu bringen und noch einmal so lange, die Bücher zu sichten und zu sortieren. Während dessen erfuhr Maelgwn, dass Delissa als Wanderschwester in Sorengard Halt gemacht hatte. Ihre Wanderung dienste dem Ziel, die verschiedenen großen und kleinen Klöster des Ordens kennenzulernen. Anschließend sollte sie in einer kleineren Niederlassung des Ordens eine leitende Stelle übernehmen, oder alternativ den Auftrag bekommen, ein neues Kloster oder einen Schrein zu gründen.
    Sie war nur ein Jahr älter als Maelgwn, seit nunmehr zwei Jahren auf Wanderschaft und hatte bereits die Klöster in Kalm und Altgrund besucht und dort gearbeitet. Beides waren gemischte Köster, mit jeweils einem Flügel für die Ordensbrüder und einen für die Schwestern. Darüber hinaus hatte sie in einem halben Dutzend kleineren Schreinen gelebt, doch die Namen der Dörfer sagten Maelgwn nichts, mit Ausnahme von Lumben, einem Holzfällerdorf, fast schon einer kleinen Stadt. Lumben belieferte seine Heimatstadt über den Fluß Holzbach mit Holz für den Schiffsbau. Maelgwn hasste die Flößer, die oft die Spelunken im Hafenviertel unsicher machten.
    Wenn Delissas Zeit in Sorengard zu Ende war, würde sie, als letzten Schritt ihres Weges zur mündigen Oberschwester, ein Jahr in der Ordensfestung in Kolmstein zubringen und unter den Großmeistern des Ordens lernen. Mit Literatur hatte sie sich nur zwangsläufig beschäftigt. In der Bibliothek war sie unglücklich.
    Sie waren bei der letzten Kiste angelangt und arbeiteten sich langsam durch den Bestand. Delissa konnte nur wenig beitragen. Hin und wieder hob sie ein Buch und zeigte es Maelgwn. Er besah es sich und schätzte ab, ob das Buch erhaltenswert war oder nicht. Bislang hatte er aber schon mehr golddurchwirkte Buchrücken und Lettern, feines Leder und Seideneinbände in der Hand gehabt als im letzten Jahr seiner Lehre, hier im Kloster.
    ‚Woher kommen die Bücher?‘, hatte er fasziniert gefragt, doch Delissa wusste es nicht genau.
    ‚Irgendein Nachlass hier aus der Stadt. Alter Ordensbestand, hat man mir gesagt.‘
    ‚Ein Ordensbestand, der nicht im Kloster lagert? Komisch.‘ Delissa hatte nur die Schultern gezuckt und weitergearbeitet.
    Jetzt fluchte sie leise, während sie versurchte uralten Staub aus einem Wildledereinband zu reiben und hielt das Buch in das Licht einer Kerze. Draußen war es mittlerweile stockdunkel.
    ‚Und was ist mit dem hier?‘ fragte sie, die Augen zusammengekniffen.
    Maelgwn sah zu ihr rüber, während er eine Ausgabe von „Feuer und Schwert“ auf den „Nicht so besonders“-Stapel legte. „Feuer und Schwert“ war eine Sammlung von Kriegsschilderungen und im Kloster bereits vorhanden.
    ‚Wie heißt es?‘ fragte er müde, mit vom Staub juckenden Augen.
    ‚Kann ich nicht lesen. Hm … Betrachtungen, oder Beobachtungen… des Immateriellen. Oder so.‘
    Maelgwn rieb sich die Augen und überlegte, ob er den Namen kannte. Ihm war, als müsste er ihm etwas sagen.
    ‚Steht da ein Autor?‘
    ‚Ja, Noi-rhom irgendwas … von Atte…‘
    Maelgwn riss die Augen auf und starrte Delissa an. Er streckte langsam die Hand aus.
    ‚Darf ich mal?‘
    Sie beäugte ihn neugierig und gab ihm das Buch. ‚Ist es besonders?‘
    Maelgwn musterte den Einband, der sichtbar alt, aber wenig abgegriffen war und drehte es in seiner Hand. Er schluckte schwer und sah dann Delissa an.
    ‚Dieses Buch steht auf der schwarzen Liste des Ordens, der Liste der verbotenen Bücher.‘
    Er machte Anstalten, es aufzuschlagen, doch ließ die Hand wieder sinken. Die Seiten waren mit Goldlack bestrichen und sahen kostbar und fein aus, aber das war nicht der Grund für sein Zögern.
    ‚Alle Bücher von Noi-rhom stehen auf der Liste. Sie zu lesen, ach was! Sie nur zu besitzen, ist streng verboten!‘
    Delissa wirkte überrascht. ‚Noi-rhom? Noch nie gehört. War er irgendwie wichtig?‘
    Maelgwn lachte nervös und sah sich dann schuldbewusst um. Er zischte: ‚Wichtig ist gut! Er ist ein Schrecken, der ganze Königreiche erzittern lässt und er ist vieles, aber nicht tot.‘, er atmete lange aus, während er weiter den Bucheinband betrachtete. ‚Es ist der Untotenkönig aus dem Sumpfland. Die Sümpfe von Rhom?‘ fragte er und sie nickte. ‚Er ist das Grauen, gegen das die Ordensfestung seit Jahrzehnten jeden Tag kämpft und gegen das die Großmeister uns verteidigen.‘
    ‚Immer und stetig, murmelte Delissa unbewusst und Maelgwn erkannte die Worte einer Litanei des Ordens. Er nickte.
    ‚Und er ist der Grund, weshalb der Orden seine Ritter und Klosterwachen schon vor Jahren nach Kolmstein berufen hat.‘ Er betrachtete Delissa mit großen Augen.
    ‚Ich hatte noch nie ein Buch von ihm in der Hand!‘
    ‚Ein Untotenkönig, der schreibt?‘ fragte Delissa sichtlich zweifelnd, während sie die Kiste weiter durchsuchte. ‚Und was ist mit diesem Namen? Der Untotenkönig heißt Godemorderen. Das weiß doch jedes Kind!‘
    ‚Ja, Du hast recht. Aber Godemorderen ist, ähm, sowas wie ein Titel. Es heißt der Göttermörder. Noi-rhom Godemorderen, so wird er in den alten Schriftstücken genannt. Irgendwann ist der Vorname dann wohl … verloren gegangen.‘
    ‚Was ist ein Götter?‘ fragte Delissa, ihre Stirn gefurcht und sah Maelgwn wieder an.
    ‚Ein Gott, viele Götter. Ein Gott ist so etwas wie ein großer und mächtiger Geist. Andere Kulturen im Süden verehren Götter. Der alte Glaube von hier übrigens auch. Bevor der Orden kam und uns den Glauben an den Großen Geist gebracht hat.‘
    Er sah sie an. ‚Wie der Große Geist hier reinpasst, weiß ich aber auch nicht.‘
    ‚Du hattest doch eine Schulausbildung im Kloster, und hast hier gelernt! Müsstest Du mir die Frage nicht beantworten können?‘
    Maelgwn nickt schuldbewusst. ‚Das müsste ich. Aber ich kann es nicht. Der Orden sagt nicht viel, wenn es um die Natur des großen Einen geht. Der Große Geist ist das lenkende Bewusstsein, dass alle Dinge durchdringt, so sagen es die heiligen Schriften.‘
    ‚Das reicht doch auch.‘ sagte Delissa feierlich und wandte sich wieder dem, Buch zu.
    ‚Was machen wir jetzt damit? Heute Morgen kam eine Delegation der Inquisition unter Hochinquisitor Rogarra nach Sorengard. Ich glaube sie sind in der Seefestung und erweisen König Somers von Isnir die Ehre, aber sie werden es sich nicht nehmen lassen, dem Kloster einen Besuch abzustatten.‘
    ‚Gardeburg, nicht Seefestung.‘, murmelte Maelgwn abgelenkt, und dann: ‚Der Hochinquisitor?‘, Maelgwn war erstaunt. ‚Ich habe bisher nur von ihm gehört. Und außerdem: warum wir? Das sind Deine Bücher.‘ und er legte einen Finger ans Kinn, ‚Ich glaube aber, dass es keine gute Idee ist, mit einem der verbotenen Bücher von Noi-rhom herumzulaufen.‘
    ‚Um es der Inquisition zu übergeben!‘ warf Delissa ein, doch der junge Schriftgelehrte schüttelte den Kopf.
    ‚Ich habe schon niedere Inquisitoren gesehen, die mit Folter und Hinrichtung gedroht haben, bloß, weil ein Gelehrter den Namen Noi-rhoms kannte.‘
    ‚Wer war der Gelehrte?‘ wollte Delissa wissen.
    ‚Gariar, mein Mentor.‘ Maelgwn machte eine weite Geste in die Bibliothek um sie herum. ‚Er hat mich hier ausgebildet und war im Orden sehr geachtet. Ich glaube, dass er damals nur deshalb um eine Bestrafung herum kam.‘ Maelgwns Blick blieb an einem Schreibpult hängen, an dem Gariar gerne gestanden hatte. ‚Er war in jungen Jahren der Schreiber von Hochmeister Resso dem Jüngeren und er kannte viele wichtige Meister des Ordens persönlich.‘ Er zuckte mit den Schultern. ‚Ich glaube, Du solltest das Buch einfach verschwinden lassen.‘
    Delissa machte große Augen. ‚Das kann ich nicht! Und selbst wenn. Wenn ich dabei erwischt werde …‘
    ‚Dann vertrau Dich halt dem Hochinquisitor an.‘ riet Maelgwn, die Achseln zuckend, ‚Vielleicht‘ und er betonte das Wort, ‚klappt es ja.‘
    Delissa sah unglücklich aus, wie sie da zusammengesunken saß, eine abgegriffene Ausgabe der „Geisterwelt“ von Okke Rufgard in der Hand und sie tat Maelgwn leid.
    Er atmete einmal tief durch und sah, wie sie den Blick hob, um seinem zu begegnen.
    ‚Oder, ich helfe dir.‘, sagte er, das Buch von Noi-rhom Godemorderen fest in der Hand.
    ‚Gut gemacht!‘, hörte er eine leise Stimme, die Stimme seines Mentors, in seinen Gedanken.

  • Ein Problem mehr

    Das Buch unter seinem wollenen Hemd versteckt und den langen Mantel um sich geschlungen, nickte Maelgwn dem Gardisten am Tor dankbar zu. Er versuchte ruhig zu sein, doch seine Hände zitterten. Er schlüpfte an dem Mann vorbei ins Freie. Jetzt schnell nach Hause!
    ‚Einen Moment!‘ Der Soldat stieß sich von der Mauer ab. Wachsam.
    ‚Alles gut?‘, fragte der junge Uniformierte und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zurückzuhalten. ‚Warum so zitterig? Nervös?‘
    Maelgwn nickte und wich der Hand aus, ‚Es ist nichts! Ich saß bloß sehr lange auf dem Boden. Und mir tut der Rücken weh.‘ Er grinste entschuldigend.
    Der Soldat kniff misstrauisch die Augen zusammen. Er machte eine große Geste daraus, ins Kloster hinein zu lauschen, doch im Kloster war es still. Keine Hilferufe drangen heraus und der Mann entspannte sich wieder.
    ‚Warum auf dem Boden?‘, fragte er im Plauderton und lehnte sich an die Mauer. Mit verschränkten Armen und einem breiten Grinsen fragte er: ‚Gesessen, oder gelegen?‘
    Maelgwn verdrehte die Augen. ‚Gesessen, Gerhard. Die Stühle waren mit Büchern belegt!‘
    Der andere lachte zischend, aber gutmütig: ‚Schreiberlinge!‘
    Maelgwn zuckte nur mit den Schultern, winkte zum Abschied und verschwand in den dunklen Gassen.

    Die Straßen waren mittlerweile fast menschenleer. Nur wenige Gestalten eilten mit hochgezogenen Schultern an ihm vorbei. Er fiel nicht auf, als er, die Kapuze hochgeschlagen, zügig zu seinem Geschäft lief und die Tür verriegelte. Tief atmete er durch, das Herz schmerzhaft in seiner Brust pochend. Was hatte er getan? Was war nur in ihn gefahren?
    Er schlug den Mantel zurück, fühlte nach dem Buch unter seinem Hemd und spürte die harten Kanten und das mittlerweile warme Papier an seinem Bauch.
    Etwas rumpelte auf der Straße und er zuckte zusammen. Doch es waren nur Betrunkene.
    Dabei fiel Maelgwn siedend heiß ein, dass er mit Koron auf ein Glas verabredet gewesen wäre. Das schlechte Gewissen versetzte ihm einen Stich, und noch war Zeit … Aber er blieb, wo er war.
    Die Minuten verstrichen und draußen blieb es ruhig.
    Maelgwn kramte unter seinem Hemd und zog das Buch heraus. In der Dunkelheit, die in seinem Laden herrschte, konnte er die Lettern auf dem Buchdeckel nicht sehen. Er tastete und spürte die Vertiefungen der Schriftzeichen. Er schloss die Augen. Dieses Buch konnte sein Todesurteil sein. Was, wenn Delissa ihn verriet? Aber Nein. Sie hätte zu große Angst, in diese Sache hineingezogen zu werden.
    Er lauschte auf Geräusche von draußen – Nichts.
    Er fand sein Zunderkästchen und entzündete den Stummel der kleinen Kerze unter seinem Tisch. Wieder musste er seinen Puls beruhigen, als er das Buch in die Hand nahm und die verblasste Schrift las: „Noi-rhom von Attenes“, der Titel nur unleserliche Fragmente. Irgendwann waren Wasser oder Schmutz auf dem Buchdeckel getrocknet. Jemand hatte sich Mühe gegeben, das Buch zu säubern, aber ohne großen Erfolg. Als Ergebnis war das Wildleder aufgequollen und jetzt war es wellig und hart und die Goldfarbe der Schrift war größtenteils abgewaschen, oder abgekratzt. Maelgwn betrachtete die Flecken genauer und schauderte. Schmutz, oder doch Blut?
    Lange saß er so da. Er wollte dieses Buch so gerne lesen! Sollte er nicht zumindest einen Blick riskieren? Sein alter Mentor hätte das Buch wahrscheinlich direkt ins Feuer, oder ins Meer, geworfen. Mit einer dicken Kette darum, dass es auch bis zum Meeresgrund sank.
    ‚Hätte ich das?‘ hörte Maelgwn wieder die leise Stimme Gariars. ‚Bist du dir da so sicher?‘
    Das Gelächter der Betrunkenen aus den Hafenkneipen war schon lange verstummt und Stille hatte sich über Sorengard gelegt. Die dünne Sichel des Mondes lauerte über einer dünnen Wolkendecke. Finstere Nacht.
    Maelgwn schlug das Buch in der Mitte auf, blätterte zum Anfang – und erstarrte.

  • Auf der Flucht

    Der Bergkönig hatte sich seiner schmutzigen Kleidung und der Reste seines Kettenmantels entledigt. Er hatte sich gewaschen, lange und gründlich, doch Blut und Schmutz waren tiefer gedrungen als nur durch die Kleidung und er fühlte sich immer noch nicht sauber. Sorengard war auf seiner langen Reise einer der wenigen Orte, die er nie ausgiebig besucht hatte. Und das gedachte er nachzuholen. Zwangsläufig.
    Der hereinbrechende Winter hatte den Weg hierher zu keinem Vergnügen gemacht, ganz abgesehen von den Häschern. Die Entbehrungen hatten ihn gezeichnet. Doch allein seine Größe machte Kolja Succar, den „Bergkönig“, zu einem beeindruckenden Mann. Was nicht gut war. Insbesondere nicht, wenn man gesucht wurde. Die Reiche Isnir und Kelden waren zwar nicht verbündet, aber das würde Kolja kaum zum Vorteil gereichen. Sollte Kelden ihn öffentlich suchen lassen, und sollte er hier gefangen werden, würde ihn nichts vor einer Auslieferung bewahren. Er hatte schon zu viele Jahre in Kerkern und in Straflagern verbracht, um das Risiko auf die leichte Schulter zu nehmen. Er würde sich nicht davon paranoid machen lassen. Aber vorsichtig würde er sein.
    Kolja hatte in einem Gasthaus im Hafen der Stadt Quartier bezogen, weil es ordentlich, aber klein war und nur wenige, gut situierte Gäste hatte. Der Name „Zum Goldenen Bug“ kam sicher nicht von ungefähr, denn es war teuer. Genau das, was er jetzt brauchte um sich zu verbergen. Er wollte nicht heimlich erscheinen, aber er hatte dem Wirt genug Geld für einen Monat gegeben und sich zurückgezogen. Essen und Bier hatte er sich auf das Zimmer bringen lassen und jetzt saß er, seit langem wieder satt und die Hände über seinem Krug gefaltet, an einem offenen Fenster in der kalten Luft. Nach Wochen auf der Flucht und immer im Freien kam ihm das angenehm geheizte Gasthaus heiß und drückend vor. Dabei brannte nicht einmal der Kamin. Er hatte das Licht im Zimmer gelöscht, den Wandteppich zur Seite geschoben und den Fensterladen geöffnet. Jetzt beobachtete er den nächtlichen Hafen, ließ den Wind sein Gesicht kühlen und dachte nach.
    Sorengard. Hauptstadt von Isnir. Er hatte nie für, oder gegen, Isnir gekämpft, zumindest nicht unter dem aktuellen König oder seinem Vater, und er sollte hier keine direkten Feinde haben. Einer der wenigen Orte nördlich der Teiler Berge, auf den das zutreffen mochte. Vielleicht hatte er ja einfach mal Glück?
    Er nahm einen kleinen Schluck Bier.
    Vor wenigen Wochen hatte er sein Kommando, eine kleine Söldner-Kompanie aus zwei Hundertschaften, in einen Auftrag geführt und verloren. Einen leichtsinnigen Auftrag, wie er jetzt schweren Herzens eingestand. Zugegeben, sein Spielraum abzulehnen war sehr klein gewesen. Aber jetzt hatte er keine Kompanie mehr und viele seiner Jungs waren tot, in Gefangenschaft oder auf der Flucht. Er rieb sich die gefurchte Stirn und folgte mit dem Blick dem Gang eines Betrunkenen, der, ein Stockwerk unter ihm, schlingernd in der Düsternis verschwand. So viele gute Jungs.
    Er hatte die verschiedenen Untergruppen der Kompanie in der freien Stadt Narvinir zusammengerufen, weil sie, nun ja, frei war. Es war riskant, aber eine Konsolidierung der Führung war längst überfällig gewesen, denn die Gruppen der Kompanie operierten zumeist unabhängig im gesamten Norden des Kontinents. Sie hatten sich getroffen, um sich ihrer gegenseitigen Loyalität zu versichern und den Männern Fronturlaub zu ermöglichen. Und dann war die freie Stadt auf sie zugekommen. Das Angebot war einfach: ‚Mindestens zwei der nördlichen Königreiche zahlen gut für den ein oder anderen Kopf aus eurem Gefolge! Kämpft für uns in der aktuellen Kampagne gegen Kelden, oder wir vernichten euch bis auf den letzten Mann.‘
    Kolja und seine Männer hatten gewusst, dass Narvinir bluffte, zumindest zum Teil. Aber die Aussicht, an der Plünderung von Karnve, der nächstgelegenen Stadt Keldens, südlich von Narvinir, teilzunehmen hatte sie verlockt.
    Seine Gedanken schweiften ab und Kolja presste die Fäuste auf die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. So viele gute Männer! Ein Werk von Jahrzehnten, die „Bergkompanie“ zu gründen und zu dem zu machen, was sie zu ihrem Ende gewesen war. Und es war ein ruhmloses Ende gewesen.
    Die Scham darüber brannte in seiner Kehle. Nicht einmal ein gutes Vermächtnis hatte er ihnen gebracht.
    Narvinir. Nur deshalb noch frei, weil das felsige Kap, auf dem die Stadt gelegen war, eine landseitige Eroberung fast unmöglich machte. Und seeseitig machten sie ihre Raubflotten unangreifbar. Dass die freie Stadt selbst aber einen Feldzug – mehr einen Raubzug, gestand sich Kolja ein – gegen seinen direkten Nachbarn und die Handelsstadt Karnve gewinnen könnte … leichtsinnig. Da hast du dich vom Gold blenden lassen, alter Mann! Und das nach all den Jahren. Den vielen, vielen Jahren.
    Ironisch prostete er dem Mond zu und trank.
    Aber es hätte ja auch klappen können, verdammt! Dass die nahgelegene Stadt Tausen seine Interventionsflotte rechtzeitig an den Eingang zum Friedmeer, dem Fjord vor dem Flussdelta bei Karnve, geführt hatte, sprach für die Spione des Königs von Kelden, das musste man zugestehen. Und ohne die Notwendigkeit, die Abwehranlagen des Hafens zu bemannen, um die Raubflotte abzuwehren, waren die Landstreitkräfte stark genug gewesen, um die Mauern von Karnve zu halten. Die Belagerung war freudlos gewesen und von Desertationen der verschiedenen Söldnergruppen geprägt. Der Weg – die Flucht – zurück nach Narvinir hatte ihrem Heerhaufen dann alles abverlangt. Wenn Kolja an das letzte Rückzugsgefecht, in dem er mit seinem ersten Offizier, Trum Querde, versprengt worden war, dachte, zog sich ihm der Magen zusammen. Der lange Weg an der Küste nach Osten. Trum, der an der schwärenden Wunde in seiner Hüfte gestorben war. Die zwei Nächte in denen er sich um Aldvigrad herum geschlichten hatte – Immer versteckt, immer heimlich. Die Milizionäre, die ihn mehrfach fast aufgestöbert hätten. Die Schreie der Versprengten, die gefunden worden waren. Die Männer, die er hatte töten müssen, Milizsoldaten, Amateure und hilflos gegen ihn. Die langen, kalten, nassen Wochen.
    Er trank noch einen letzten Schluck, den Humpen jetzt leer in der Faust, und starrte weiter aus dem Fenster.
    Vorbei! Er straffte seinen Rücken und zwang sich zu einem Grinsen, wölfisch und freudlos. Er lebte. Das war gut.
    Und seine Suche, der rote Faden seines Lebens, war erfolglos gewesen. Es hatte in Narvinir keine Hinweise auf Horazio gegeben. Wie bisher nirgends.
    Den Auftrag für die Kompanie, sinnierte er, hatte er annehmen müssen, um die Mäuler zu stopfen. Und jetzt ging es weiter, allein, aber weiter. In Sorengard.

    Ohne besondere Erwartungen streifte er am Tag darauf durch die Gassen der Stadt. Sein oberstes Ziel war es, nicht aufzufallen, insbesondere der Obrigkeit, und so trug er keine sichtbaren Waffen, ließ die Schultern hängen und gab sich als der alte Mann, der er war. Sein langer, grauer Vollbart und der farblose Wollumhang, den er auf dem Markt erstanden hatte, trugen das ihre dazu bei. Er wurde eins mit der Stadtbevölkreung. Es half, dass fast jeder in Sorengard die eine oder andere Art von Mantel oder Umhang trug, denn es war diesig und kalt. Es regnete nicht, aber feine Wassertröpfchen schwebten in einem dicken Nebel durch die Stadt und setzten sich auf seinem Mantel ab, ohne ihn jedoch zu durchdringen. Kolja wanderte, und beobachtete.
    Die Stadtwachen wirkten entspannt, die Städter arbeitsam und zuversichtlich. Offenbar war der kurze Sommer einträglich gewesen und die Vorratskeller und Lagerhäuser waren voll. Der Winter konnte kommen. Auf dem Markt hatte er viele regionale Waren gesehen, aber nur wenig Exotisches aus dem Seehandel. Sorengard machte dem Ruf Isnirs alle Ehre: es war bodenständig, seegebunden und rau. Erzeugnisse aus Wolle und Holz waren billig, Werkzeuge aus Metall, oder gar Waffen recht teuer und Fisch bekam man fast geschenkt.
    Kolja wollte sich gerade durch die Tür eines kleinen Gasthauses am Marktplatz ducken, als er ein Gedränge hinter sich wahrnahm und drehte sich um. Gerade rechtzeitig, um die Prozession zu sehen, die in diesem Moment eine Straße herauf kam. Eine Straße, die, wie er mittlerweile wusste, vor der Königsburg am Hafen endete. Von dort kam ein gutes Dutzend Berittene, die zwei zuvorderst und der Letzte im blau-grauen Livree der Burgwachen und dazwischen eine Gesandtschaft in braunen Kutten. Die zentrale Figur dieser Prozession aber war ein dürrer Mann mit kantigem Gesicht, eine rote Schärpe um die Hüfte … Scheiße! Kolja duckte sich und wandte den Blick ab, um selbst nicht gesehen zu werden. Rogarra!
    Der Bastard von Hochinquisitor war in Sorengard?
    Kurz erwog er, in das Gasthaus zu verschwinden, doch jede hektische Bewegung konnte ihn jetzt verraten. Er wusste nur zu gut, wie wachsam Rogarra war! Und die Gruppe Berittener war bereits fast auf seiner Höhe! Er konnte sogar die gedämpften Stimmen hören, als der Inquisitor sich mit seinem Nebenmann, einem Ritter vom Hofe König Somers, unterhielt: ‚… war der Verstorbene ein treuer Diener des Ordens. Die Sicherung seines Besitzes, zur Rettung alter Ordensschätze, ist in seiner Wichtigkeit beispiellos für mich.‘
    ‚Das habt ihr deutlich gemacht, Inquisitor.‘ entgegnete der Mann im Plattenharnisch steif. ‚Seid versichert, es wurde bereits alles zum Kloster …‘
    ‚Ich möchte nur,‘ unterbrach der Hochinquisitor den Ritter, ’sichergehen, dass wir uns richtig verstehen. Es geht nicht bloß um ein paar Devotionalien mit sentimentalem Wert! Der Großmeister selbst hat mich hierher …‘
    Die Stimmen der beiden Männer verloren sich im Hufgeklapper und dann waren sie vorbei. Kolja verschwand in den Gastraum, und setzte sich blind auf den erstbesten freien Platz bei der Tür. Sein Mund war trocken und seine Hände zitterten. Der Inquisitor kam im Auftrag des Großmeisters den weiten Weg von Kolmstein hierher, ins kalte Sorengard? Er trommelt mit den Fingern auf das Holz des Tisches. Konnte es sein? Er selbst hatte Jahrzehnte mit der Suche nach Horazio zugebracht. War er hier gewesen? Was sonst könnte für den Orden so wichtig sein? An diesem abgelegenen Fleck? Ein Mann mit Horazios Reputation hätte überall hingehen können. Und wann war er gestorben? Und wie? Er vergrub das Gesicht in seinen großen Händen. Flüchtig nahm er wahr, dass jemand an seinen Tisch trat und bestellte etwas zu Essen und einen Krug Bier. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er unter Wasser, aber seine Gedanken rasten. Er hatte so viele Fragen, aber er zwang er sich zur Ruhe und lehnte sich zurück. Es galt nichts zu überstürzen. Insbesondere, da er nicht sicher sein konnte, dass der Hochinquisitor und sein Begleiter tatsächlich von dem Gelehrten gesprochen hatten, aber Kolja wusste, er musste nur in die Nähe dieses „Besitzes“ kommen und er würde Gewissheit haben. Nach so vielen Jahren der Wanderschaft! Er schloss die Augen, beruhigte die Geister, die er aufgestört hatte, und lächelte, als er das Klappern eines hölzernen Tellers und eines Humpens hörte.
    ‚Habt Dank!‘, brummte er und erntete ein scheues Lächeln der Schankmaid. Dann machte er sich ans Essen. Endlich! Nach fast zweihundert Jahren endlich eine neue Spur!

  • Maelgwn III

    Maelgwn lag unter dem Tisch, auf seinem Schlaflager. In seinen Mantel und eine wollene Decke gehüllt fror er nicht und er hätte für immer so liegen bleiben können, wenn da nicht der Hunger und der unangenehme Druck auf seiner Blase gewesen wäre.
    Seit drei Tagen hatte er den Laden kaum verlassen, wenig getrunken und noch weniger gegessen. Zweimal war er hinter das Haus gegangen, um seine Notdurft zu verrichten. In seinem Laden war es stickig. Und es war kalt.
    Maelgwn schlug die Decke zurück und stellte wieder fest, dass das Gefühl der Wärme und Behaglichkeit schnell verflog. Zurück blieb eine Erschöpfung, die nicht bloß körperlich war. Er fühlte sich leer und sehr müde. Und jetzt wo er sich bewegte auch kalt. Vielleicht, so sinnierte er abgeklärt, war ihm gar nicht wirklich warm gewesen. Vielleicht starb er. An der Kälte? Oder an einer magischen Einflussnahme?
    Man sagte den Schriften von Noi-rhom nur weniges nach. Kein Wunder, denn zum einen war ihre Existenz geheim und zum anderen war es verboten, über sie zu sprechen. Dass Noi-rhom, der Godemorderen, auf dem besten Weg war, den Osten des Kontinents in ein Brachland zu verwandeln, nur von Untoten bevölkert, schürte aber, er überlegte, wie er es formulieren sollte: „gewisse Sorgen“ hinsichtlich der Gefährlichkeit seiner „Erzeugnisse“.
    Davon abgesehen hatte sich die Lektüre dieses Buches als erstaunlich bodenständig und unproblematisch erwiesen. Das handgeschriebene Buch, Maelgwn vermutete ein Original, beschrieb eine Weltsicht, die zwar fremdartig war, aber dennoch bereichernd. Er wusste nicht genau, was er erwartet hatte, aber nicht das. Zwar beschrieb das Buch die verbotenen und gefährlichen Praktiken der Magi, der legendenhaften Zauberkundigen, die unter dem Glauben des Großen Geistes verboten worden waren, doch beunruhigend fand Maelgwn das Buch nicht. Keine Frage, bloß, dass er dieses Buch besaß war ein Todesurteil. Und das, was er in dem Buch gefunden hatte, sorgsam versteckt in einer geschnittenen Vertiefung für die mehrere Dutzend Seiten zerstört worden waren … er konnte sich keinen Reim darauf machen. Wer versteckte ein Schmuckstück in einem Buch? Noch dazu ausgerechnet in diesem Buch? Er betrachtete das Kleinod kurz. Es war ein Knochen, vermutlich ein Fingerknochen, in einer Fassung aus Bronze. Die Bronze war im Alter schwarz geworden, der Fingerknochen grau. Er verstaute die Brosche wieder in seinem Münzbeutel und schlug das Buch wieder auf. Er starrte darauf, die Zeilen vor seinen Augen verschwimmend. Er stöhnte. Es half nichts! Er musste etwas essen!

    Eine geraume Weile später war er am Markt. Er hatte sich viel Mühe gegeben, die Umgebung seines Ladens zu beobachten, bevor er ihn verlassen hatte. Die Handlanger von Arek waren an jedem, der vergangenen drei Tage bei seinem Laden gewesen, hatten durch die Fenster gespäht und sich gedämpft unterhalten. Sie hatten keine Anstalten gemacht, die Tür aufzubrechen, die er natürlich verriegelt hielt, aber es vermutete, dass seine Zeit ablief. Sie würden ihn holen. Vielleicht noch vor dem ersten Schnee.
    Auch die Angehörigen der Stadtwache und Angehörige des Ordens hatte er gemieden und deshalb zweimal einen Umweg in Kauf genommen. Er konnte nur vermuten, dass sie ihn offiziell nicht suchten, aber er konnte nicht sicher sein.
    Auf dem Markt nickte ihm der Marktvorsteher zu und machte eine Geste zu einem Tisch, doch Maelgwn winkte ab. Er schlängelte sich durch die Besucher und erstand einen Ring Wurst, eine Blase mit Bier und ein Brot. Er besah sich ein paar Kleidungsstücke, immer noch durchgefroren, und kaufte eine wollene Mütze und ein großes Schafsfell. Da er nicht damit rechnete, noch lange in Freiheit zu leben, wollte er mit seinem Geld nicht mehr haushalten. Wahrscheinlich würden ihn Areks Häscher in den kommenden Tagen oder Wochen holen, und warum sollte er ihnen dann auch noch Bargeld überlassen. Auch, wenn es genau genommen Areks Geld war.
    Bei dieser Überlegung kaufte er auch noch ein Sax, die Klingenwaffe fast so lang wie sein Unterarm und hängte es an seinen Gürtel. Er sah fast aus wie einer der Freihändler oder Großbauern, die zwischen den Städten ihren Lebensunterhalt verdienten. Freihändler. Er verzog das Gesicht ob dieser Ironie. Er war nie ganz frei gewesen. Und schon bald würde er noch viel unfreier sein.
    Mit der Waffe würde er zumindest Widerstand leisten können, obwohl – lachhaft! – er war kein Kämpfer. Nie gewesen. Aber vielleicht konnte er seine Häscher zumindest einmal verjagen und das war es dann.
    Er ließ die Schultern hängen, vergrub die Hände in seinen Ärmeln.
    Kurz hatte er seine Umgebung nicht im Blick gehabt, da packte ihn eine Hand an der Schulter und Maelgwn zuckte so heftig zusammen, dass er fast umgefallen wäre. Die harte Hand drehte ihn um und eine Stimme knurrte: ‚Hier bist du also!‘,
    ‚Koron!‘ stieß Maelgwn hervor, das Blut in seinen Ohren rauschend. Seine Beine gaben ein wenig nach und Koron packte, überrascht, fester zu. ‚Ach du Schreck, Mael!‘ Koron starrte ihn besorgt an und hielt ihn jetzt auch noch mit der anderen Hand. ‚Das wollte ich nicht!‘, sagte er, und, ihn langsam loslassend ‚Geht es?‘
    ‚Es geht schon.‘ flüsterte Maelgwn und vermied es sich umzusehen. Nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen!
    ‚Ich mache mir Sorgen um dich.‘ sagte Koron, ihn von oben bis unten betrachtend. ‚Und wohl zu Recht. Du siehst furchtbar aus!‘, ‚Psssst!‘, zischte Maelgwn leise, doch noch mehr Gesichter drehten sich ihm und seinem Freund zu. ‚Lass uns später sprechen. Vielleicht heute abend? Im „Goldenen Bug“?‘
    ‚Du hast mich erst kürzlich schonmal versetzt.‘ grummelte Koron beleidigt. ‚Und warum im Bug? Die Getränke sind teuer!‘
    ‚Aber dafür ist es ruhig!‘ Er betrachtete seinen Freund. ‚Ich zahle auch.‘
    Die Augen des jungen Zimmermanns wurden bei diesen Worten noch kleiner als ohnehin schon, ‚Bist du zu Geld gekommen? Hat jemand deinen Laden aufgekauft?‘
    Maelgwn ließ die Schultern hängen. ‚Komm einfach.‘ bat er seinen Freund leise.
    ‚Na dann.‘ grollte sein Gegenüber. ‚Dann sehen wir uns heute Abend. Ich hole dich ab.‘
    ‚Einverstanden.‘ nickte Maelgwn. ‚Vielleicht sehen wir uns zum letzten Mal.‘
    Korons Augen wurden groß und sein Blick wanderte vielsagend zu dem Sax, das sich sperrig unter Maelgwns Mantel abzeichnete.
    ‚Wir werden reden. Und mach bis dahin nichts Unüberlegtes!‘
    Maelgwn nickte wieder und wandte sich ab. Die Aufmerksamkeit der Marktbesucher war verflogen, bloß ein großer, düsterer Mann mit grauem Vollbart begegnete seinem Blick, sah dann aber betont gelangweilt in die andere Richtung. Maelgwn beeilte sich, den Markt zu verlassen.

    Er war satt und im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Es brannte hell und heiß, denn altes Papier verbrannte nun einmal schnell. Er dachte sich, dass es ihm eigentlich weh tun müsste, die Bücher brennen zu sehen, doch es kümmerte ihn nicht. Ihm war seit Wochen das erste Mal wieder richtig warm. Seine Kleidung hatte er getrocknet und so saß er zufrieden auf einem der jetzt freien Stühle, das Buch von Noi-rhom auf dem Schoß und schnitt sich mit dem Sax eine Scheibe Wurst ab. Die lange Klinge war kein Rasiermesser, aber sie hatte eine schöne Gebrauchsschärfe.
    Er hörte ein Geräusch und drehte sich zu einem Fenster um. Dort sah er kurz das kleine Gesicht eines Mädchens und wilden Haaren, dann war es schon wieder verschwunden. Ein Straßenkind? Davon gab es in Sorengard nicht viele, wenn überhaupt. Der Orden nahm Waisenkinder oft auf und brachte sie im Kloster, oder außerhalb der Stadt in anderen Ordenshäusern unter. Waisenkinder, die auf der Straße lebten, hatten in diesem kalten und harten Klima einen sehr schweren Stand.
    Maelgwn erhob sich, träge vom guten Essen und der Wärme, und wankte zur Tür. Er nahm die Reste von Brot und Wurst mit und öffnete die Tür und sah die leere Straße hinunter. Das hatte er erwartet. Ächzend bückte er sich und legte das Essen auf die Türschwelle. Dann schloss er die Tür. Lauschend meinte er, das Scharren kleiner Füße von draußen zu hören, sicher war er sich aber nicht.
    Als Koron ihn geraume Zeit später abholte, war die Türschwelle leer.

  • Zum Goldenen Bug

    ‚Was soll das?‘ fragte Koron ihn später, ‚Wir sollen uns zum letzten Mal gesehen haben? Spinnst Du?‘ Sie saßen im Goldenen Bug, an einem Tisch am Rand des Schankraums und hatten den Raum gut im Blick. Vielleicht ein Dutzend anderer Gäste war anwesend und saß alleine, oder in Gruppen zu zwei oder drei Personen im Raum verteilt. Es war ruhig, abgesehen von einem gepflegten Gemurmel. Der auffrischende Wind vom Meer her heulte leise und ließ die Fensterläden klappern. Ein Geräusch, das kein echter Sorengarder noch wahrnahm, so selbstverständlich waren Wind, Regen und ihre Begleitgeräusche.
    Maelgwn gab seinem Freund ein Zeichen zu warten, bis der Wirt, der gerade an den Tisch trat, ihnen zwei schäumende Krüge mit dunklem Bier hingestellt hatte. Der Mann hielt die Krüge fest und blickte von Maelgwn zu Koron, und zurück. ‚Verzeiht, dass ich frage, die jungen Herren, aber …‘ Der Blick des Mannes zeigte deutlich, dass er in seinem Haus selten Zimmermannsgesellen oder junge Bewaffnete empfing und seine Miene hellte sich erst auf, als Maelgwn ihm eine große, kupferne Münze hinschob. Korons Augenbrauen waren wortlos nach oben gewandert, als der Wirt die Münze einsteckte, wesentlich freundlicher jetzt, und sie an ihrem Tisch alleine ließ.
    ‚Und warum wirfst Du plötzlich mit Geld um Dich?‘ Seine Stimme war angespannt. Kein Wunder. Seit Wochen hatten sie sich kaum gesehen und noch weniger miteinander geredet, aber die missliche Lage, in der sich Maelgwn befand, war nur zu offensichtlich. Und es zehrte an Koron.
    Maelgwn lehnte sich zurück und lächelte. Bald war es vorbei. Armer, guter Koron! Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Maelgwn holte tief Luft:
    ‚Ich habe beschlossen, die letzten Tage meines Lebens … Oder, von mir aus auch, die letzten freien Tage meines Lebens weder hungrig noch kalt zu verbringen. Und jetzt wo wir hier sind auch nicht zwingend nüchtern.‘ Er hob seinen Krug und prostete Koron zu, der sichtlich unwillig nach seinem eigenen Bier griff. Maelgwn trank. Koron nicht.
    ‚Das kann nicht Dein Ernst sein! Du gibst auf? Und deshalb Deine gute Laune? Bist Du wahnsinnig?‘ blaffte Koron ihn fassungslos an.
    ‚Ich kann die Stadt nicht verlassen, weißt Du.‘ versuchte Maelgwn sich zu erklären, ‚Keine Erfahrung in der Welt da draußen. Ich kann den Kredit nicht zurückzahlen …‘ Er schürzte die Lippen, ‚Ich wüsste nicht, wie. Ich kann auch nicht kämpfen und …‘ Er lachte bitter, ’selbst wenn ich es könnte. Wer bin ich, mich mit einem hohen und einflussreichen Herrn anzulegen? Noch dazu, da Arek im Recht ist! Ich habe Geld geliehen und er darf es zurückfordern, oder einen Ausgleich dafür.‘
    Maelgwn nahm noch einen Schluck von dem Bier und konnte schon die erste Wirkung spüren. Ärgerlich, dachte er. Es machte ihn nicht ruhiger, sondern im Gegenteil: Es kratzte an seiner Fassade. Unruhig rutschte er auf der Bank herum und befingerte sein Bier. Er sah zu Koron hinüber und fand ihn in seinen Krug starrend vor, das Bier unangetastet.
    Er betrachtete seinen alten Freund. Das Handwerk, das der junge Mann vor etwas mehr als drei Jahren zu lernen begonnen hatte, hatte schon seine Spuren bei Koron hinterlassen. Die Hände trugen Schwielen und kleine, kaum verheilte Verletzungen. Das Gesicht war rauer geworden vom Wind und dem Regen, dem er ständig ausgesetzt war. Das kantige Gesicht mit dem ausgeprägten Kinn hatte seinen jugendlichen Charme verloren, aber etwas reiferem Platz gemacht und Maelgwn lächelte wehmütig. Der junge Zimmermann war auf dem besten Weg, ein gestandener und respektabler Mann zu werden. Sie waren gleich alt, doch im Gegensatz zu seinem Freund war Maelgwns Leben so gut wie zuende.
    Er löste seinen Blick, blinzelte die Tränen weg, und ließ ihn stattdessen durch den Gastraum schweifen. Die anderen Gäste waren mit sich selbst beschäftigt und nur der Gastwirt sah kurz zu ihnen herüber, aber mehr aus professioneller Aufmerksamkeit, denn Neugierde. Eine dunkle Gestalt zog Maelgwns Blick an. Der Mann war ein wahrer Riese! Vermutlich mehr als zwei Schritte groß saß er alleine an einem Tisch, eine Platte mit Fleisch und zwei Krüge Bier vor sich, der eine voll, der andere scheinbar fast leer. Gerade fischte der Mann mit einem spitzen Dolch eine Scheibe Fleisch von dem Brett und Maelgwn war, als würde er kurz zu ihm und Koron herübersehen, da widmete sich der Mann schon wieder seinem Essen.
    Es war Maelgwn, als hätte er den Mann schon einmal gesehen …
    ‚Ich würde für Dich kämpfen.‘ riss ihn Korons Stimme aus seinen Gedanken und er erschrak.
    ‚Das ist nicht notwendig!‘, beeilte er sich zu sagen, doch der andere hob die Hand und gebot ihm Schweigen.
    Jetzt trank Koron doch einen Schluck Bier und wischte sich den Schaum vom Mund. Seine Stimme war leise, nachdenklich. Maelgwn kannte ihn in allen seinen Stimmungen, doch so hatte er ihn noch nie gehört.
    ‚Ich möchte kein Zimmermann sein.‘ fuhr Koron fort. ‚Ich möchte ein Schwert ergreifen. Ich habe überlegt, mich einer Gruppe Soldburschen anzuschließen. Wer weiß, vielleicht mache ich mein Glück. Ich möchte nicht hier in der Stadt alt werden und verrotten!‘ Er schwieg und Maelgwn war klug genug, seine Gedanken nicht zu unterbrechen.
    Der andere atmete tief durch und vergrub das Gesicht in den Händen, so saß er eine Weile da und Maelgwn trank noch einen Schluck.
    Als Koron aufsah, war sein Gesicht ausdruckslos, seine Augen gerötet.
    ‚Aber wo sollen wir anfangen? Arek töten, und dann? Die Stadtwache hängt uns auf, schneller als wir schauen können.‘
    ‚Moment mal!‘ wandte Maelgwn ein, ‚Davon Arek zu töten war keine Rede …‘
    ‚Und doch hast Du Dir ein Sax gekauft.‘ unterbrach Koron ihn, ‚Ausgerechnet Du!‘ Er gestikulierte ziellos. ‚Du kannst mir links, wie mit rechts, schreiben, aber wenn Du die Federkiele schärfst, müsste man schon um Dein Leben bangen!‘
    Maelgwn wiegte nur den Kopf ob dieser Kritik. Sein Freund hatte ja nicht ganz Unrecht.
    ‚Ich bin ja selbst kein Krieger. Woher auch? Raufereien halt.‘ Koron warf ihm einen schnellen Seitenblick zu und Maelgwn nickte. Oh ja! Ein jüngerer, wilderer und grausamerer Koron hatte ihm, vor vielen Jahren, die Schulzeit zur Hölle gemacht. Wie lange das schon her war! Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Gut, dass damals niemand gestorben war.
    ‚Nein, Koron. Zu gesuchten Verbrechern – zu Mördern! – zu werden …‘ er schüttelte den Kopf, ‚Vor allem nicht …‘ und er versuchte seine Stimme streng klingen zu lassen, ‚Wenn wir aus meinem Problem damit ein Problem für uns beide machen! Es ist vorbei für mich, mein Freund.‘ und seine Stimme brach fast.
    Kalt spürte er, wie Angst und Bitterkeit ihn übermannten und zwang sich zur Ruhe. Es wirkte.
    ‚Du machst das sehr gut.‘ hörte er die ruhige Stimme Gariars in seinen Gedanken und wunderte sich zum wiederholten Male, warum er ihn in den letzten Tagen so oft gehört hatte. Vor allem so deutlich. Es musste die Angst sein, die Furcht, die seinem Verstand Streiche spielte.
    ‚Selbst wenn: Solange es Dir nutzt, ist es ein guter Streich, den Dein Verstand Dir spielt, nicht wahr?‘ lächelte die Stimme und Maelgwn nickte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass der riesenhafte Mann auf der anderen Seite des Raumes den Kopf gehoben hatte und ihn ansah, Fassungslosigkeit auf dem zerfurchten Gesicht und die grauen Augenbrauen erhoben. Maelgwn erstarrte vor Furcht, ohne zu wissen warum, doch der große Mann wandte den Blick wieder ab, trank noch einen Schluck Bier, warf einige kleine Münzen auf den Tisch und ging. Ein kalter Windstoß ließ die Kerzen flackern. Koron hatte von all dem nichts mitbekommen.
    Gerade wollte Maelgwn seinem Freund von dieser beunruhigenden Beobachtung erzählen, da ging die Tür zum Schankraum erneut auf und ein Mädchen in verschlissenem Gewand trat herein. Sie schüttelte sich den Regen aus den kurzen, schwarzen Haaren und richtete ihre dunklen Augen auf Maelgwn. Sie konnte kaum älter als zwölf Jahre alt sein, doch sie verlor kein Wort, sondern knallte einen Brief vor Maelgwn auf die Tischplatte, zog den Kopf zwischen die Schultern und verschwand wieder in den Regen hinaus.
    Beide starrten ihr hinterher. Der Brief trug das Siegel der Inquisition.

  • Vergossenes Blut

    Katra hatte ihren Teil erfüllt. Jetzt wartete sie in um die Ecke, neben diesem hübschen Gasthaus mit dem sauberen Boden.
    Sicher, das Siegel der Inquisition war eine schlechte Fälschung, aber die beiden standen so unter Druck, dass sie kaum zweimal hinsehen würden. Sie schnaubte. Als ob die Inquisition einen Brief schicken würde, bevor die einen holen kam! Areks zwei Schläger waren gegenüber und gerade zwinkerte ihr Orin, der größere der beiden Mistkerle, bösartig zu. Sie verzog das Gesicht. Sie war schon zu oft von den beiden geschlagen worden. Und beide machten sich einen Spaß daraus, sie für blödsinnige Aufgaben herumzujagen. Und dann lachten sie. Diese dreckigen Kerle! Und manchmal taten sie ihr und den anderen Kindern auch schlimmeres an.
    Sie spuckte geräuschvoll aus und handelte sich damit einen bösen Blick von Bakke, dem kleineren, breiten ein. Sie zuckte mit ihren dürren Schultern und verschränkte die Arme ob der Kälte. Orin und Bakke, Areks bevorzugte Schläger und Menschenfänger. Womit verdiente der dünne Bücherwurm, dem sie den Brief gegeben hatte, was ihm blühte? Vermutlich hatte er Geld verloren. Das war es immer! Es war immer das Geld, bei den Erwachsenen. Und, dass er schwach war.
    Erwachsene, die schwach waren – Ihr kam die Galle hoch! Sie und die anderen Straßenkinder wünschten sich nichts sehnlicher, als erwachsen zu sein. Es war der einzige Weg zur Stärke. Lange genug zu leben. Die kleineren Kinder verstanden es noch nicht. Sie litten einfach, bis sie alt genug waren, um zu verstehen. Erwachsene, die schlugen und alles bestimmten. Erwachsene, die begrabschten. Und wenn die Kleinen verstanden hatten, dann wurden sie stumpf, bitter und hart. Und trotzdem litten sie. In dieser Zeit zeigte sich, ob sie in der Lage waren durchzuhalten, oder ob sie zu schwach waren und zerbrachen – Dann dauerte es oft nicht lange, bis sie starben.
    Das war ihre Welt.
    Aber ein Erwachsener, der schwach war, davon wurde ihr übel.
    Sie spuckte erneut und wieder schaute Bakke böse zu ihr herüber. Er machte eine eindeutige, harsche Handbewegung, um sie zu verscheuchen und sie zog sich etwas weiter in die Gasse zurück, in die Schatten. Von hier konnte sie sehen, dass Orin sich zu seinem Spießgesellen herunterbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Beide grinsten und Katra schauderte. Sie würde den anderen Mädchen sagen, dass sie heute nicht im Lager hinter Areks Haus schlafen sollten. Wenn Orin in dieser zwinkernden Stimmung war, vergriff er sich fast immer an den Mädchen. Und sie würde die kleine Marla finden müssen. Das kleinste Mädchen in ihrer Gruppe verstand die Gefahr noch nicht. Der Winter kam, und Marla würde alleine draußen nicht überleben, oder, sie würde das einzige Mädchen sein, das heute Nacht im Lager schlief. Dann wäre es wahrscheinlich besser, draußen irgendwo zu erfrieren.

    Etwas rumpelte und ein warmer Lichtschein fiel, von außerhalb ihres Sichtfelds, auf die Kreuzung. Jemand hatte die Tür zum Gasthaus geöffnet und als der Lichtschein wieder verblasste, kamen zwei schmale Schatten auf die Kreuzung. Die beiden schritten rasch aus, doch nicht schnell genug.
    Orin und Bakke schälten sich aus dem Dunkel.
    Die beiden Gestalten zuckten zusammen und Katra hörte, wie jemand zischend Luft holte. Der hintere der beiden fummelte ungeschickt an seinem Gürtel herum.
    Alle sahen ihm dabei zu.
    Es gelang dem Dünnen, eine kurze Klingenwaffe, ein Sax, zu ziehen. Orin grunzte. Es klang eher genervt, denn verunsichert.
    Zwei schnelle Schritten, dann schlug er dem dünnen Kerl erst die Klinge aus der Hand und ihn dann mit einem Rückhandschlag zu Boden.
    ‚Scheiße.‘ knurrte er und hielt sich die Hand. ‚Dreckskerl.‘
    ‚Was isn?‘, fragte Bakke, den anderen nicht aus den Augen lassend.
    ‚Hab mich geschnitten. Scheißdreck.‘
    ‚Selbst Schuld. Heb ihn auf! Der Kerl ist bares Geld wert.‘
    ‚Ich brech ihm die Beine, das mach’ ich!‘
    Katra war näher herangekommen.
    ‚Orin! Lass es!‘, blaffte Bakke.
    Der Angesprochene grollte, doch er nahm den Dünnen an einem Arm. Der hing da, schlaff wie eine Puppe, und Orin zog ihn hinter sich her.
    ‚Lasst ihn hier! Ihr n-nehmt ihn nicht mit!‘ Der Andere, der Begleiter des Bücherwurms, wollte Orin in den Weg treten, doch Bakke gab ihm einen Stoß und er strauchelte. Katra konnte sehen, dass der Kerl am ganzen Leib zitterte.
    ‚Mach das nochmal und ich schlag’ dich tot.‘ Bakke starrte ihn böse an und zog einen Knüppel, der ihm hinter dem Gürtel gesteckt hatte.
    Sosehr Katra die zwei Schläger verachtete, sie bewunderte ihre brutale Effizienz und die Furcht, die sie in anderen weckten.
    Als hätte Orin ihre Gedanken erraten, sah er sich nach ihr um und grinste sie an. Die Abscheu machte ihr Gänsehaut und doch, sie hatte schon öfter ertragen, was er tat. Es war der Preis für ein bisschen mehr Sicherheit.
    Schritte von genagelten Stiefeln knirschten auf dem Pflaster, dann verdunkelte ein Schatten die Kreuzung. Alle drehten die Köpfe. Der Mann, der hochgewachsen und mit wildem Bart auf der Kreuzung stand, hatte den Mond im Rücken. Sein Gesicht lag im Dunkeln.
    ‚Verpiss ich …‘ knurrte Bakke abgelenkt. Er war noch immer dem Freund des Gestürzten zugewandt. ‚Das geht dich nichts an. Die Kerle haben Schulden.‘
    ‚Oh, Schulden.‘ Die Stimme des großen Fremden war tief, aber sanft. ‚Die habe ich auch. Und die Zinsen …‘ Er schüttelte langsam den Kopf. Das Licht einiger weniger Sterne als ein schwaches Funkeln in den Augen. ‚Ich werde meine Schuld in diesem Leben nicht mehr begleichen können.‘
    ‚Ach … Nein?‘ Orin runzelte heftig die Stirn. ‚Bei Arek Einauge?‘
    Fast hätte Katra gekichert. Der Bärtige war ganz offensichtlich ein Fremder. Das Timbre in seiner Stimme war anders, als der harte Sorengarder Ton, wenn auch sein Dialekt ähnlich klang. Ganz sicher hatte der Mann noch nie von Arek Einauge, dem Herrn der Seitenstraßen und Gassen und dem Meister der Straßenkinder, gehört.
    ‚Ich … wir …‘ versuchte es Bakke noch einmal, um dann frustriert mit dem Knüppel auf Orin zu deuten. ‚Hey! Jag das Arschloch weg!‘
    Der große Fremde hob beschwichtigend die Hände.
    ‚Gemach! Gemach! Warum streiten?‘ Er ließ die Hände wieder sinken und wandte sich Orin zu, der die schlaffe Gestalt ihres Ziels abgelegt hatte, und der sich ihm jetzt, wiegenden Schrittes, näherte.
    ‚Ich möchte bloß den kleinen Kerl, den ihr da gefangen habt. Es geht auch um Schulden … Aber anders. ‚ Er machte einen Schritt zurück, um aus der Reichweite von Orins Knüppels zu kommen, den der große Grobian jetzt gezogen hatte. ‚Und ich kann seine Schuld vielleicht bezahlen, wie wäre das?‘
    ‚Orin! Halt ein.‘ Bakke blickte den Fremden jetzt mit zusammengekniffenen Augen an. ‚Du willst was tun?‘
    ‚Seine Schuld. Wie hoch ist sie?‘
    ‚5 Goldkronen.‘
    ‚Oh.‘ Der Mann pfiff durch die Zähne. Dann fischte er, mit einer geübten Bewegung, einen kleinen Beutel von seinem Gürtel, schüttete ihn auf seine Hand, und zählte.
    Orin war stehen geblieben und glotzte.
    ‚Du bist nich’ von hier, oder?‘ fragte er stumpf, den Blick auf die Münzen in der Hand des Fremden gerichtet.
    Der blickte auf und sah den Blick des anderen. ‚Bitte tu das nicht!‘
    ‚Was meinst, wird jemand nach dir suchen?‘ fragte Orin, fast schon nachdenklich, und schlug zu. Der Schlag war schnell und hart, schneller, als Katra mit ihren Augen erfassen konnte und Münzen klimperten auf das Pflaster.
    Dann brach Orin zusammen.
    ‚Schei…‘ fluchte Bakke, da war der Fremde schon bei ihm. Er wollte mit dem Knüppel ausholen, doch er fand sein Handgelenk in einem festen Griff wieder und bekam den Arm nicht frei. Dann traf ihn eine Faust im Gesicht. Katra hörte das Krachen und sah, wie Blut aus Bakkes Ohren spritzte. Der stämmige Schläger sackte zusammen, ein langes Seufzen auf den Lippen und Katra wusste sofort, dass er tot war. Oder bewusstlos – allerdings, bei der Blutlache, die sich an seinem Kopf sammelte? – Tot. Ganz sicher.
    Der Bärtige hielt sich eine Schulter und rollte sie langsam, während er sich umsah. Dann, mit der Gewandtheit einer großen Katze, packte er den schlaffen Körper des Schreiberlings und wuchtete ihn auf seine Schultern.
    ‚Komm.‘ brummte er dem anderen, dem Freund des Schreibers, zu und wandte sich ab.
    ‚Nicht da. Besser hier e-ent-t-lang.‘ Der junge Mann winkte ihn mit riesigen Augen herbei. Zusammen verschwanden sie im Dunkel der Stadt.
    Die kleine Katra stand noch immer im Schatten der Gasse, ein weites, wildes Grinsen auf ihrem Gesicht. Ihre kleinen Zähne blitzten im Schein des Mondes, der gerade hinter einer Wolke hervorgekrochen kam. Die Straßenkinder verehrten Stärke und sie – sie hatte den Gipfel erblickt!
    Schnell sammelte sie die Münzen auf, die der Fremde hatte fallen lassen und wich dabei den Körpern und dem Blut von Orin und Bakke aus.
    Dann ging sie. Keine Notwendigkeit mehr, jemanden zu warnen oder im Kalten zu schlafen.
    Hinter ihr scharrten die Hacken von Bakke über das Pflaster, doch sie kümmerte es nicht. Dann war er eben noch nicht tot. Sein Pech! Sie hatte ihn von nahem gesehen und war sich sicher, dass das nur eine Frage der Zeit war.


  • Ein Hauch von Freiheit

    Maelgwn kam im Dunkeln zu sich. Er wollte die Augen öffnen, doch stechende Kopfschmerzen rollten über ihn hinweg und er kniff sie noch fester zusammen. Undeutliche Stimmen unterhielten sich in seiner Nähe, aber er konnte ihnen nicht folgen. Er stöhnte leise, ohne sich zu bewegen und spürte den Schmerz in Wellen an- und abschwellen. Es wurde nicht besser, aber auch nicht schlimmer, also wagte er leicht den Kopf zu bewegen – Es ging.
    Er zählte in Gedanken von drei herunter und öffnete die Augen. Keine zusätzlichen Schmerzen regten sich. Leise keuchend besah er sich seine Situation und war überrascht: Er lag unter seinem Tisch, auf dem Fell, das er gekauft hatte und mit seinem Mantel als Decke. Der beruhigende Geruch nach Schaf hüllte ihn ein.
    Die leisen Stimmen in seiner Nähe wurden deutlicher:
    ‚… einem sehr alten Freund. Aber, das wird sich sicher später klären, wenn er wach wird.‘ Die Stimme war Maelgwn gänzlich unbekannt. Das Timbre aber war angenehm, entspannt und nicht bedrohlich. Trotzdem war ihm unangenehm bewusst, dass jemand, den er nicht kannte, in seinem Laden war.
    ‚Wenn ihr meint.‘ Es war Koron, den er, mit zweifelndem Unterton, hören konnte. ‚Aber ich kenne euch nicht. Und ich kenne jeden seiner Freunde. Mael und ich kennen uns schon, seit wir Kinder sind.‘
    ‚Nicht er ist dieser alte Freund.‘ sagte der andere begütigend. ‚Es ist ein wenig komplizierter.‘
    Maelgwn wollte sich am liebsten still verhalten – aber dann? Also hob er den Kopf ein wenig und spürte, wie sich die vertraute Stimme Gariars in seinem Kopf regte. Eine plötzliche Welle von Emotionen brach über ihn herein: Verwirrung, Freude, Bestürzung, Schuld. Und Hoffnung.
    Tränen schossen ihm in die Augen und er wischte sie irritiert weg.
    Koron, der den Fremden gerade gefragt hatte, wie dieser nach Sorengard gekommen war, verstummte und Maelgwn hörte das Rascheln ihrer Kleidung, als sie sich zu ihm umdrehten. Er setzte sich auf, die Augen gegen den Schmerz in seinem Kopf zusammengekniffen und sah zum Kamin, wo, mit kleinen Flammen, zwei dicke Bücher brannten.
    Gariars Stimme in seinem Kopf war so deutlich, wie noch nie zuvor:
    ‚Willem?‘, staunte sie und Maelgwn echote: ‚Willem?‘ bevor er sich dessen bewusst war.
    Am Kamin erhob sich eine riesenhafte Gestalt, ganz breite Schultern und zottiger Bart. Erst wollte sich Maelgwn wieder unter seinen Tisch kauern, aber die Gestalt wirkte nicht bedrohlich auf ihn. Wenn man das bloße Aussehen des Mannes außen vor ließ, natürlich.
    Der große Mann räusperte sich. Seine Schultern zuckten und er atmete heftig. Maelgwn konnte das Gesicht des anderen nicht sehen, aber der Mann weinte doch!
    Maelgwn sah Hilfe suchend zu Koron, der sich ebenfalls erhoben hatte. Der junge Zimmermann stand in einem respektvollen Abstand zu dem großen Mann – Willem? – und rührte sich nicht, war er aber offenbar genauso verwirrt wie Maelgwn selbst.
    Wieder räusperte sich der Mann. ‚Ich heiße jetzt Kolja, Kolja Succar. Aber …‘ Seine Stimme brach fast. ‚Wie … ist das möglich?‘
    ‚Hast du nicht nach mir gesucht?‘ hallte die Stimme in Maelgwns Kopf wieder, ‚Warum sonst solltest du hierherkommen?‘
    ‚Ich habe das ganze Land abgesucht, nach einem Zeichen von Horazio! Aber nicht nach dir! Wie hätte ich hoffen können … ?‘
    ‚Horazio, ja. Lebt er?‘
    ‚Er ist tot, ähm …‘ Er verstummte, und die Stimme in seinem Kopf sprang ihm bei: ‚Morion. Du kannst mich bei meinem Namen nennen. Wir benötigen keine Förmlichkeiten!‘
    Der große Mann beugte den Kopf und sprach leise weiter. ‚Horazio ist tot. Ich weiß nicht, wie er gestorben ist. Kürzlich erst. Aber …‘ Wieder rollten dem Mann Tränen über das Gesicht und er wischte sie achtlos beiseite, ‚ihr hier. Nach all der Zeit.‘
    ‚Was geht hier vor?‘ unterbrach Maelgwn leise und vorsichtig. Wie konnte dieser fremde Mann die Stimme hören, die er für eine Erinnerung an seinen Mentor hielt?
    ‚Ja! Warum redet ihr plötzlich mit euch selbst?‘ Koron hatte den Fremden angesprochen. Zunächst verstand Maelgwn nicht, was Koron von ihm – Willem? Kolja? – wollte. Aber wenn Koron die Stimme in seinem Kopf nicht hören konnte, was sagte das über den fremden Krieger aus?
    ‚Wer seid ihr?‘ fragte Maelgwn nochmal.
    Er meinte, ein Seufzen, wie einen geisterhaften Wind, zu hören. ‚Und so kommt es, dass wir eine Entscheidung treffen müssen.‘ antwortete die körperlose Stimme. Kolja nickte.
    ‚Kann uns der Junge nutzen?‘ Der Blick des Mannes war berechnend.
    ‚Er kann mich hören. Das ist … bemerkenswert.‘ erwog die Stimme. ‚Das vermochte selbst Horazio nicht.‘ Maelgwn spürte, was ein durchatmen sein mochte, ‚Es war der Orden, der ihn fand und ihn tötete. Und es war keine Lüge, als er ihnen in seinen letzten Momenten versicherte, dass er mich tot und meine Seele vergangen fürchtete.‘
    ‚Also wart ihr bei ihm, als er starb?‘
    ‚Ich war die letzten 400 Jahre bei ihm!‘, die körperlose Stimme klang bitter. ‚Hätte er seine Studien nur ernster genommen …‘
    ‚Morion!‘, Koljas Stimme war angespannt, ‚Der Junge …‘
    ‚Du hast ja recht.‘ Maelgwn konnte die Anstrengung fast spüren, die es für die Stimme erforderte, sich aus seinen Gedanken zu reißen. ‚Hol das Amulett heraus, Junge!‘
    Das Amulett? Was hatte das Amulett damit zu … Oh! Ihm wurde heiß. In seinem Beutel tastete er danach und fand es zwischen den wenigen Münzen. Seine Hände zitterten, als er es herausholte und betrachtete. Er sah den hünenhaften Mann an und schluckte. ‚Werdet ihr uns töten, wenn ich das Medaillon hergebe?‘ Seine Stimme war heißer.
    ‚Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.‘ Der Blick des anderen war undurchdringlich, während er ihn betrachtete. Dann schüttelte er den Kopf und rieb sich mit beiden Händen die Augen. ‚Nein. Wir müssen uns beraten, Morion und ich. Ihr beide‘ er schob den überraschten Koron an sich vorbei in Maelgwns Richtung. ‚Seid still und wartet ab. Wir sind keine Mörder. Und jetzt, das Amulett, wenn ich bitten darf.‘
    ‚Ich habe es in einem Buch von Noi-rhom, dem Godemorderen, gefunden.‘ setzte Maelgwn zaghaft an.
    Was hast du?‘ zischte Koron. Maelgwn konnte aus den Augenwinkeln sehen, dass sein Freund ihn anstarrte. Er aber blickte Kolja an.
    ‚Werdet ihr uns an die Inquisition verraten?‘
    ‚Lasst mich kurz mit Morion reden. Es gibt vieles‘, er lachte freudlos, ’sehr vieles zu klären.‘ Er nahm das Medaillon aus Maelgwns Hand und ging damit zur Eingangstür. Dort setzte er sich auf den Boden, den Rücken zur Tür, und schloss die Augen. Fliehen konnten sie also nicht.
    ‚Was geht hier vor, Mael!‘ hörte er seinen Freund neben sich flüstern.
    ‚Das Amulett …‘ setzte Maelgwn an, nur um sich direkt zu unterbrechen. ‚Komm.‘ Er zeigte auf den Kamin, in dem die zwei dicken Bücher nur noch glühende Asche waren. ‚Setzen wir uns.‘

    Es dämmerte als Kolja zu Maelgwn und Koron an den Kamin trat. Seine Haltung verriet Erschöpfung und er zog sich einen Stuhl heran, um sich darauf sinken zu lassen. Die Augen aber straften seine Haltung Lügen. Scharf musterte er sie. Erst Maelgwn, lange, dann Koron.
    ‚Morion und ich haben uns beraten.‘ brummte er. Maelgwn und Koron warteten atemlos, doch der Mann starrte ins Feuer, und hing seinen Gedanken nach.
    ‚Was bedeutet das für uns?‘ fragte Koron tonlos. ‚Und wer ist Morion?‘
    Maelgwn hatte seinem Freund von seiner „inneren Stimme“ erzählt, aber auch davon, dass er selbst keinen Schimmer hatte, woher sie genau gekommen war.
    ‚Morion war der letzte, und talentierteste Schüler eines großen Magiers. Noi-rhom. Einem Mann, der Seinesgleichen in der Welt der Gelehrten und Geistseher suchte.‘ Maelgwn stellten sich die Haare auf den Unterarmen auf, als Kolja den Namen des Godemorderen so schamlos aussprach.
    ‚Du trägst dick auf, alter Freund.‘ hörte Maelgwn eine leise Stimme. Irritert hielt er inne. Dass die Stimme nun so leise war, konnte nur damit zusammenhängen, dass Kolja das Amulett an sich genommen hatte und das wiederum …
    ‚Ist es das Amulett, das spricht?‘ fragte er überrascht und Kolja nickte.
    ‚Ja, und Nein. Es ist die Seele, die in das Amulett eingeschlossen ist.‘
    Koron sprang alarmiert auf und warf dabei fast seinen Stuhl um. Maelgwn erstarrte. ‚Eine Seele? Ist das Zauberei?‘ Hastig presste er beide Handflächen gegen seine Schläfen. Kolja lächelte belustigt.
    ‚Was soll das werden?‘
    ‚Es ist eine Abwehr gegen das Böse.‘ erklärte Maelgwn. Er war erstaunt, dass er so viel weniger schockiert war als Koron. Auf der anderen Seite hatte er die letzten Tage mit einem Buch von Noi-rhom zugebracht. Der Name hatte seither viel von seinem Schrecken verloren.
    ‚Das Böse dringt in den Kopf der Menschen ein und verwirrt ihren Verstand. So entstehen die Zombies, die aus den Sümpfen von Rhom über die Länder herfallen. Das lehrt uns der Orden.‘
    ‚Mhm.‘ Kolja bedeutete Koron, sich wieder zu setzen. ‚Du kannst die Hände herunternehmen. Euch droht keine Gefahr.‘
    Korons Blick huschte zwischen Kolja und Maelgwn hin und her. Maelgwn zuckte die Schultern. ‚Wir sind eh im Arsch, Kor.‘
    ‚Ich will meine Seele nicht verlieren!‘ Koron funkelte ihn an. Doch als Maelgwn nicht reagierte, setzte er sich wieder. Diesmal jedoch etwas weiter von Kolja entfernt.
    ‚Morion könnte es euch selbst erklären, aber du, mein Junge‘ er deutete auf Koron, ‚kannst ihn ja nicht hören. Also …‘
    ‚Aber wie kann sie, er … ich meine die Seele, wie kann sie sprechen?‘ Koron atmete schnell, nur gerade so auf der Kante seines Stuhls sitzend, bereit zur Flucht.
    ‚Höhere Thaumaturgie und die höchsten Gipfel der magischen Künste in einfachen Worten zusammengefasst: Keine Ahnung. Ein nekromantisches Ritual bindet eine Seele an einen Gegenstand. Was die Seele eigentlich ist? Unklar. Wieviel mehr von einem Menschen, als seinen Lebensfunken trägt sie? Strittig. Warum Morions Seele seinen Charakter erhalten hat und sprechen kann? Im besten Fall erklärbar, falls man die Geduld für schamlose Esoterik hat. Im schlechtesten Fall ein Wunder und damit genauso esoterisch.‘ Kolja fischte kopfschüttelnd in den Taschen seines Mantels herum und holte eine kleine Zinnflasche heraus, aus der er einen Schluck nahm. Sein Husten verriet scharfen Alkohol. ‚Stimmt euch meine Antwort zufrieden?‘
    Maelgwn und Koron starrten ihn an.
    ‚Aber Magie ist verboten!‘ flüsterte Koron und Maelgwn nickte, doch Kolja winkte ab. ‚Verboten? Seit wann, und von wem?‘
    Sie tauschten ratlose Blicke mit einander.
    ‚Vom Orden, und seit rund 400 Jahren.‘ beantwortete Kolja seine Frage selbst. ‚Selbstschutz!‘ er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
    ‚Magelli gründete den Orden, als er nach mehr magischer Macht strebte, als er erreichen konnte. Er tötete Noi-rhom und verbrachte Jahrzehnte damit, das Fundament dessen zu errichten, was heute der Orden des Großen Geistes ist.‘ Er lacht ironisch, ‚Jetzt kontrolliert er alle institutionelle magische Macht diesseits der Teiler Berge.‘
    Maelgwn rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er und Koron tauschten einen weiteren unglücklichen Blick. ‚Das ist Blasphemie.‘ hob Maelgwn an. So viel bösartige Bitterkeit! Was dachte sich dieser Mann? ‚Der Orden ist unser Schutz gegen das Böse. Die Ordensfestung …‘
    Aber Kolja hörte ihm nicht mehr zu. Die Stirn gefurcht blickte er zum Fenster, an dem gerade ein kleines, dreckiges Gesicht zu sehen war und dann verschwand.
    ‚Ein Straßenmädchen.‘, sagte Maelgwn entschuldigend. ‚Ich stelle ihr manchmal etwas zu Essen raus. Aber sie ist nie da, wenn ich die Tür aufmache.‘
    ‚Wegen dieser Behauptung über den Orden…‘ sprang Koron ihm bei.
    Da klopfte es.

  • Von der Straße

    Das kleine Mädchen hatte gesagt, ihr Name sei Katra. Jetzt saß sie vor dem warmen Kamin, die Augen misstrauisch zusammengekniffen und beobachtete die drei Männer. Sie war Wärme nicht gewohnt. Maelgwn erkannte das. Sie hatte die Lumpen, mit denen sie Kopf und Hals umwickelt hatte, umständlich, mit einer Hand, abgewickelt und hielt sie jetzt fest umklammert. Wie jemand, der wusste, dass einem alles gestohlen werden konnte, egal, wie wertlos es auf den ersten Blick erschien. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. Zunächst hatte sie nur in der Tür gestanden, bereit, jederzeit Reißaus zu nehmen, aber, nachdem Kolja entdeckt hatte, dass an ihrer linken Hand Blut herabtropfte, war alles sehr schnell gegangen. Mit barschem Ton hatte er sie nach drinnen beordert und sie hatte den kleinen Kopf geneigt und war eingetreten. Jetzt versorgte Kolja die hässliche Verletzung. Der linke Unterarm war bis auf den Knochen aufgerissen – Eine Nagelkeule, vermutete Maelgwn. Irgendjemand hatte versucht, ihr den Schädel einzuschlagen und sie hatte sich geschützt und ihren Arm dabei geopfert. Es musste sehr schmerzen, da war sich Maelgwn sicher, doch sie zuckte mit keiner Wimper.
    Sie hatte keine echte Chance, schätzte er. Auch wenn Kolja einen ganzen Stapel Bücher gleichzeitig in den Kamin geworfen, und einen Topf mit Wasser abgekocht hatte, stand fest, dass sich die Wunde entzünden würde. Es würde hässlich werden, bevor sie qualvoll starb. Sie verstand das. Ihre Augen verrieten es.
    ‚Geht es?‘ brummte Kolja, während er die Wunde mit den bloßen Fingern inspizierte und Blut ungleichmäßig auf den Boden tropfte. Ihren Arm hatte Maelgwn über dem Ellenbogen abgebunden, was ihm ein anerkennendes Nicken von dem riesenhaften Mann eingebracht hatte, und jetzt drückte Kolja auf der Wunde herum. Dreck und Umgebungsgifte aus den eingebluteten Taschen, die sich unter ihrer Haut gebildet hatten, quollen nach draußen.
    Die Kleine nickte stumm, den Kiefer angespannt, dass man die Zähne knirschen hören konnte. Schweiß tropfte von ihrer Nasenspitze. Dann wurde sie ohnmächtig.
    Kolja war bereit, denn er fing sie ohne Mühe auf und bettete sie auf seinen Schoß. So groß war er, und so klein war sie, dass er sie ohne weiteres halten konnte. Er hielt seine rechte Hand über ihren Arm, schloss die Augen und vor Maelgwns und Korons ungläubigem Blick bildeten sich auf ihrem Unterarm kleine Blasen, die nach einander aufplatzten. Zähflüssige Tropfen einer brauen Masse traten durch die Verletzungen nach außen und sammelten sich zu einer kleinen Kugel unter Koljas Handfläche. Er betrachtete das Gebilde kurz, dann schleuderte er es in den Kamin. Noch einmal wiederholte er die Geste, das Feuer im Kamin wurde dunkler, dann wieder heller. Katras Arm erschien Maelgwn mit einem Mal sauberer, als davor und ein feiner Staub schwebte vor Koljas Hand, der sich in diesem Moment zu einer weiteren Kugel verdichtete und ebenfalls beiseite geworfen wurde.
    ‚War das Zauberei? Habt ihr die Wunde gereinigt?‘, fragte Maelgwn atemlos. Es überraschte ihn, wie wenig es ihn berührte, diese Blasphemie beobachtet zu haben. Er war fasziniert.
    ‚Ja, die Wunde ist sauber. Zumindest der Schmutz ist draußen. Aber nein, keine Zauberei.‘ Kolja wischte sich die Hände an einem heißen Tuch ab und begann dann, den kleinen Unterarm mit einem anderen, abgekochten Tuch zu verbinden. ‚Magie.‘
    Maelgwn wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er hatte in seinen Studien fast alles gelesen, was man über die Welt lesen konnte, doch Bücher über Magie waren vom Orden streng verboten, da sie eine Gefahr für die zivilisierte Welt darstellen. So hieß es zumindest.
    ‚Zauberei sind Taschenspielertricks.‘ erklärte Kolja. ‚Im Grund geht es darum, mit geringem Aufwand und Täuschung etwas wie Magie aussehen zu lassen. Magie ist, nun ja.‘ Er blickte auf und begegnete Maelgwns Blick, ‚Magie halt. Geistsehen. Geistformen. So etwas.‘ Er schürzte die Lippen. ‚Ich bin kein guter Lehrer.‘
    Damit kümmerte er sich weiter um Katra und bette sie auf Maelgwns Lager, unter dem Tisch. Fast hätte Maelgwn protestiert. Das Mädchen stank. Vor allem jetzt, wo sie vom Feuer gewärmt war, stank sie nach Schweiß, Unrat und Fäkalien.
    Niemand von ihnen roch wirklich gut, aber dieses Mädchen musste unter den schlimmsten Umständen leben.
    ‚Kein guter Lehrer?‘ hörte er Koron gerade, ‚Und was war das vorhin mit „Thautamurgie“ und so?‘
    ‚Nur etwas, das ich auswendig gelernt habe.‘ entgegnete Kolja abgelenkt.
    ‚Warum erzählt ihr uns das alles?‘ wollte Maelgwn wissen, ‚Wir könnten euch verraten! Ihr seid ein Häretiker. Wir sollten euch verraten!‘
    ‚An den Orden?‘ fragte Kolja ruhig, ‚Natürlich könntet ihr das. Aber Hochinquisitor Rogarra ist nicht für seine Geduld, oder seine Nachsicht, bekannt. Ihr seid Mitwisser!‘ Er faltete die Hände und sah sie mit schief gelegtem Kopf an und lächelte, ‚Vielleicht macht er bei euch eine Ausnahme. Obwohl einer von euch ein Buch von Noi-rhom gelesen hat, und ihr beide von mir und Morion wisst.‘
    Maelgwn erkannte dieselbe Argumentation, die er bei Delissa im Kloster verwendet hatte und ließ nur stumm den Kopf hängen. Aber Koron, neben ihm, begehrte wütend auf! Maelgwn hörte gar nicht zu. Er ging hinüber in die Ecke, in der er das Buch des großen Nekromanten versteckt hatte, holte es hervor und betrachtete es. Es hatte ihm die Augen für eine Welt geöffnet, die so anders war, als er sie kannte. So anders, und so viel freier. Noi-rhom war dafür getötet worden, hatte Kolja gesagt, und doch verbreitete er als Godemorderen seit Jahrzehnten Angst und Schrecken. Maelgwn wusste nicht, wie das zusammenpasste, aber er wollte es wissen. Er war bereit gewesen, sich dem Schicksal eines Schuldsklaven zu beugen, doch jetzt? Jetzt war alles wieder offen, bloß, das er den weiteren Weg nicht erkennen konnte. Er hatte den Pfad eines normalen Lebens verlassen. Er konnte sich immernoch der Obrigkeit unterwerfen und wahrscheinlich sterben, aber jetzt wo es soweit war regte sich, ja, was? Trotz?
    Als er zum Kamin zurückkehrte, war zwischen Koron und Kolja Stille eingetreten und Koron betrachtete betreten seine Stiefel. Er sah fragend zu Kolja und hielt ihm die offene Hand entgegen.
    ‚Wenn ihr uns nicht töten wollt, um euer Geheimnis zu wahren, dann gebt mir das Amulett. Ich habe … Fragen.‘
    Kolja neigte zustimmend den Kopf. ‚Er wollte eh, dass du ihn trägst.‘
    Maelgwn lief es kalt den Rücken hinunter. ‚Warum ich?‘ flüsterte er.
    ‚Weil du mit ihm reden kannst. Und ich bin zu auffällig. Rogarra kennt mich.‘
    ‚Dann verlassen wir die Stadt?‘
    ‚Zu spät.‘, die leise Stimme kam von Katra, die die Augen geöffnet hatte. Sie war blass, und atmete flach. ‚Ausgangssperre.‘
    ‚Eine Ausgangssperre?‘ wunderte sich Maelgwn. ‚Das wird König Somers nicht zulassen. Der Handel ist wenig, im Winter, aber Geld ist Geld.‘
    Kolja schüttelte den Kopf.
    ‚Der Orden schützt Isnir vor den wandernden Horden aus den Rhomer Sümpfen. Es kostet den König viel mehr, wenn er selbst Truppen mobilisieren muss. Da wird er auf ein bisschen Zoll, Zehnt und Steuern verzichten können. Isnir war schon immer pragmatisch.‘
    Maelgwn kaute auf seiner Unterlippe.
    ‚Und du?‘ fragte er Katra. ‚Was machst du hier?‘
    ‚Ich war verletzt …‘ fing das Mädchen ausweichend an, aber Maelgwn schüttelte den Kopf.
    ‚Verletzte werden auch im Kloster versorgt. Vielleicht bist du dort besser aufgehoben …‘
    ‚Ich gehe nicht ins Kloster!‘ schüttelte sich die Kleine, um dann mit einem Stöhnen zurück auf das Lager zu sinken. ‚Kinder verschwinden da!‘
    Aus den Augenwinkeln konnte Maelgwn sehen, dass Kolja den Kopf hob und zustimmend nickte. Was?
    ‚Im Kloster verschwinden keine Kinder!‘ Er und Koron wechselten einen Blick. Sein Freund sah ebenso fragend aus.
    ‚Doch, immer wieder werden Kinder in das Kloster geholt und dann sieht man sie nie wieder!‘
    ‚Manche werden in anderen Klosterschulen untergebracht, wenn hier kein Platz für sie …‘ Aber Katra schüttelte nur langsam den Kopf.
    ‚Sie verschwinden.‘ flüsterte sie. Dann sah sie auf, mit seltsam glasigen Augen. ‚Don hat mich geschlagen. Weil ich Arek nicht verraten habe, wer Orin und Bakke getötet hat. Jetzt kann ich nirgends mehr hin.‘

    Später, als Katra schlief, saßen die drei Männer wieder zusammen am Kamin. Koron hatte auf dem Markt einen Schinken, geräucherten Fisch und Brakenbrod gekauft, ein hartes und sehr salziges Weizenbrot, und sie aßen schweigend. Sie hatten das Thema um die Straßenkinder nicht weiter vertieft, und Maelgwn war ein mulmiges Gefühl geblieben. Als hätte das Mädchen einen Zweifel angerührt, der bereits in ihm geschlummert hatte.
    Ich kann es aber nicht benennen, dachte er bei sich und spülte das salzige Brot mit ein wenig Wasser hinunter.
    Aber was auch immer die Fragen, die sich aus Katras Anschuldigungen ergeben hatten, für ihn bedeuteten, wenn überhaupt, sie mussten warten. Es gab drängendere Probleme.
    ‚Ihr sagt also, dass ihr gesucht werdet. Und dass der Hochinquisitor euch in einen Kerker steckt, oder Schlimmeres, wenn er herausfindet, dass ihr hier seid?‘
    Kolja kaute ruhig weiter, schluckte dann und trank selbst einen kleinen Schluck Wasser. ‚Das trifft es. Ja.‘ Er schnitt sich noch ein Stück von dem Schinken ab. Sein Handmesser war klein und dünn und von erlesener Schönheit, ein Griff aus Horn, mit einem Quarzstein als Abschluss und einer irisierenden Klinge, die wie Wasser schimmerte.
    ‚Kerker ist aber unwahrscheinlich. Ich erwarte auf jeden Fall Schlimmeres. Unsere gemeinsame Geschichte ist lang.‘
    ‚Und ihr sagt auch, dass Arek noch nicht mit uns fertig ist?‘ hakte jetzt Koron nach.
    ‚Wohl kaum. Seine Dummköpfe sind tot. Er weiß nicht, wie sie gestorben sind, aber ihr letzte Auftrag war, unseren gemeinsamen Freund hier …‘ dabei zeigte er auf Maelgwn. ‚… zu holen. Und sie kamen nicht zurück. Für ihn wird es wahrscheinlich sein, dass ihr etwas damit zu tun habt. Das kann er schlecht auf sich sitzen lassen.‘
    Maelgwn hob eine Augenbraue. Seit wann waren sie Freunde geworden?
    ‚Das heißt, wir trennen uns? Jeder kümmert sich um seine eigenen Probleme?‘ überlegte der junge Zimmermann laut und sah dabei alles andere als glücklich aus.
    ‚Wohl kaum. Mein wichtigstes Ziel, die letzten … ähm, Jahre, war, Morions Seele zu finden.‘ Er faltete die Hände über dem massigen Bauch, doch Maelgwn spürte, dass die Geste trog. Kolja war angespannt. Sehr sogar.
    ‚Morion möchte bei euch bleiben. Bei Maelgwn, heißt das. Und ich werde ihn nicht noch einmal verlieren! Außerdem sind eure Chancen besser gegen diesen Arek, wenn ich bei euch bin.‘
    ‚Warum will dieser Morion, dass Maelgwn ihn trägt?‘ Koron säbelte nun selbst an dem Schinken und benutzte dafür ein Arbeitsmesser von seinem Gürtel.
    ‚Er kann ihn hören.‘ erklärte Kolja geduldig, und zum wiederholten Male. ‚Das ist bereits eine große Leistung. Normalerweise muss man ein initiierter Geistseher sein, um die Stimme einer Seele zu hören. Also…‘ Kolja räusperte sich, ’so die Theorie.‘
    ‚Was soll das heißen? Warum nur in der Theorie?‘
    ‚Weil es praktisch nie erprobt wurde.‘ Kolja scharrte unruhig mit dem großen Fuß auf dem Boden herum, ‚Körperlose Seelen sind nicht gerade normal. Eher… sehr unnormal. Unmöglich, könnte man sagen.‘
    Er sah Maelgwn und Koron unzufrieden an.
    ‚Das hier ist magisches Neuland! Der Körper stirbt, die Seele vergeht. Was mit ihr passiert, weiß niemand. Eine Seele sollte ohne Körper nicht existieren. Aber Morion existiert. Es ist ein Rätsel.‘
    ‚Und warum ist seine Seele in einem Medaillon?‘
    ‚Das fragen wir ihn besser selbst! Er ist der Gelehrte.‘ wich Kolja der Frage aus und stand dann auf, um nach dem Mädchen zu sehen. Maelgwn und Koron sahen ihm nach und beiden kam der Gedanke, dass der Krieger vor ihren Fragen geflohen war.

  • Am Scheideweg

    Maelgwn spazierte am Piers entlang und sah den Fischern bei ihrer winterlichen Arbeit zu. Natürlich fuhren sie auch jetzt noch hinaus, solange die Hafeneinfahrt nicht zugefroren war. Aber alles verlief langsamer im Winter. Die kurzen Tage ließen ohnehin nur Ausfahrten zu, die zeitig begannen und genauso zeitig wieder zurück waren. War dann noch ein Netz zu flicken, oder etwas anderes zu erledigen, dann verschob man die Fangfahrt auch gerne auf den nächsten Tag.
    Sie wohnten jetzt seit fast einer Woche mit Kolja und Katra zusammen und in dem kleinen Bücherladen war es eng geworden. Natürlich schafften sie Platz, indem sie Bücher verbrannten, aber es war und blieb nur ein einzelner Raum. Sein Vermieter ließ durchblicken, dass er angenommen hatte, Maelgwn wolle eine Buchhandlung und kein Gasthaus führen und Maelgwn hatte ergeben geknickt und die Miete für den kommenden Monat bezahlt. Jetzt hatten sie wieder Ruhe.
    Na ja, fast.
    Betont unauffällig ließ Maelgwn den Blick an der Mauer des Piers entlangwandern, und atmete erleichtert auf, als er nichts sah.
    Gestern Nacht hatte sich ein Attentäter Zugang zum Haus verschafft.
    Katra hatte ihn als „Don“ erkannt, eine hinterlistige Missgeburt von einem Schweinearsch – Katras Worte, nicht die seinen – und Kolja hatte die Überreste des Mannes kurz darauf im Hafenbecken entsorgt. Offenbar war er versunken, denn die Leiche war weder zu sehen, noch war sie geborgen worden.
    Damit hatte Arek einen weiteren seiner Vertrauten verloren. Eine weitere Stütze seines Einflusses. Dieser Don war wohl für die Straßenkinder, ihre Aufträge und ihren Gehorsam verantwortlich gewesen, wenn er nicht für Arek Menschen umbrachte. Er war gut darin gewesen, und kreativ.
    Kolja hatte ihn an einem Fenster abgefangen und erwürgt.
    Einfach so.
    Es war erstaunlich, wie sich Koljas Gelassenheit in dieser Sache auf seine drei Schützlinge übertrug. Nach einiger Verwirrung und Unruhe hatte Kolja sie wieder ins Bett geschickt.
    Ins Bett geschickt! Maelgwn schüttelte den Kopf.
    Man musste die Sache wohl positiv sehen.
    Arek verlor Männer und würde die Jagd sicher bald einstellen, das war zumindest Maelgwns Meinung. Katra hatte ihn ausgelacht. Ein Mann in Areks Position konnte es sich nicht erlauben, diese Sache auf sich beruhen zu lassen, war ihre Meinung und Kolja schien ihr zuzustimmen.
    ‚Er ist eigentlich kein Geldverleiher. Damit fängt er nur
    Dass Maelgwn jetzt alleine spazieren gehen konnte, war ein Zugeständnis von Kolja.
    Der hatte die Lage abgewogen und beschlossen, dass sie mit Arek und seiner Bande noch nicht so weit waren, dass Mordanschläge am helllichten Tag zu erwarten waren.
    Maelgwn dämmerte: Kolja hatte das alles schon einmal erlebt. Wie er alles schon einmal erlebt zu haben schien.
    Über seine Schulter war das Antiquariat kaum noch zu erkennen.
    Dort waren Koron, Katra und Kolja. Der junge Mann und das Mädchen hingen an Koljas Lippen, vor allem Koron, jetzt, da er mit seinem Handwerk gebrochen hatte. Vor zwei Tagen hatte sein Jugendfreund vor dem großen Krieger das Knie gebeugt und ihn gebeten, ihn zu lehren.
    Maelgwn hatte noch die erstaunten Gesichter in Erinnerung.
    Kolja hatte grimmig und ablehnend reagiert, aber auf Korons Bitten hin schnell eingelenkt.
    Maelgwn wusste nicht, woher er den Verdacht nahm, aber Kolja trug schwer daran, ein Anführer zu sein.
    Keinen Glockenschlag später hatte Katra dasselbe getan. Jetzt saß ein unglücklicher Kolja mit seinen zwei Schülern im Laden und beantwortete geduldig Fragen. Für einen schlechten Lehrer machte er das sehr gut.
    Maelgwn hatte frei.
    ‚Er hat schon zu viele Gefolgsleute und Freunde sterben sehen.‘
    Maelgwn blinzelte, aus seinen Gedanken gerissen, verwirrt umher. Dann fiel es ihm wieder ein und er schalt sich einen Narren – Das Medaillon.
    ‚Soll ich dir ein wenig über ihn erzählen? Ich denke, wir reisen noch eine Weile zusammen.‘
    Morion klang ungezwungen.
    Maelgwn zögerte.
    ‚Wieso sollten wir zusammen reisen? Wir haben kein gemeinsames Ziel!‘
    ‚Nein?‘ hörte er die verwunderte Stimme der Seele, ‚Aber ihr habt keinen Ort, an dem ihr bleiben könnt. Dieser Disput mit diesem Geldverleiher wird nicht schöner, sondern brutaler und hässlicher werden. Selbst wenn ihr aushaltet, die Männer, die jetzt bereits gestorben sind, haben die Wache bestimmt schon aufmerksam gemacht. Irgendwann wird der Stadtvogt der Sache auf den Grund gehen wollen, und dann nimmt diese Sache hier ein Ende. Bis dahin seid ihr hoffentlich weit weg oder politisch gefestigt genug, um dem Vogt die Stirn zu bieten …‘ Morion lachte leise in seinen Gedanken, fuhr aber ernst fort: ‚… oder ihr endet am Strang. Oder wie auch immer man hier Mörder und Verbrecher bestraft.‘
    ‚Man versenkt sie, mit einer Kette beschwert, im Schuldloch. Am Ende der Hafenmauer. Manche lässt man vorher eine Weile in den Käfigen darüber sitzen. Nackt.‘ Maelgwn verstummte.
    Bilder der Verbrecher, deren Schicksal er mitangesehen hatte, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. ‚Es ist nie besonders warm, hier in Sorengard.‘ erklärte er dann, ‚Darum sind sie nackt.‘
    ‚Ich verstehe.‘
    Maelgwn schwieg wieder und dachte nach. Er dachte an seine Kindheit im Kloster, seine Jugend mit Gariar, das Antiquariat und die ständige Angst und Sorge seitdem. Und an ihre jetzige Situation.
    ‚Was also ist unser gemeinsames Ziel?‘ fragte er dann.
    ‚Die Stadt Mornvyr. Den Godemorderen vernichten. Und danach den Orden.‘
    Maelgwn stolperte und biss sich auf die Zunge.

    ‚Kor, wir müssen uns von den anderen trennen.‘ sagte er später.
    Abgelenkt hantierte sein alter Jugendfreund mit einem Dolch, den ihm Kolja geliehen hatte und wechselte immer wieder die Griffhaltung. Die schmale, beidseitig geschliffene Klinge beschrieb Halbkreise – Hammergriff, umgekehrter Griff, Fechtgriff, wieder umgekehrter Griff, die Klinge am Unterarm verborgen, dann wieder alles von vorne.
    Er übte mittlerweile ständig irgendwelche Dinge, die ihm der alte Krieger gezeigt hatte. Heute Morgen hatte er mit einem gebogenen Draht im Schloss einer alten Truhe herumgestochert, von der Maelgwn gar nicht gewusst hatte, dass er sie besaß. Vielleicht hatte sie dem Vormieter gehört? Oder dem Besitzer des Hauses?
    Er war bewundernswert geduldig bei diesen Übungen.
    Er bemerkte, dass Koron seinen Dolch zur Seite gelegt hatte und ihn jetzt ansah.
    War er lange in Gedanken gewesen?
    ‚Warum sollten wir uns trennen wollen, Mael?‘
    ‚Weil sie verrückt sind!‘ flüsterte Maelgwn. Er hatte das Amulett an der Eingangstür abgelegt und Kolja und Katra waren unterwegs. „Aufklären“ hatte Kolja gesagt.
    ‚Weißt du, was sie vorhaben? Weißt du, was ihr Ziel ist?‘ Maelgwn musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. ‚Du meinst, du hast einen tollen Meister gefunden, aber was weißt du denn über ihn?‘
    ‚Wenig.‘ Gab Koron zu, ‚Und damit kommst du jetzt? Als ich vor ein paar Tagen Angst um meine Seele hatte, da hast du dagestanden als könnte dich nichts erschüttern. Du hast mich angesehen, als wäre ich eine zarte Jungfer und jetzt plötzlich wird dir mulmig?‘
    ‚Sie wollen den Godemorderen töten!‘ widerwillig sah Maelgwn die Wahrheit hinter den Worten seines Freundes, aber dennoch! ‚Das ist Wahnsinn! Seit Jahrzehnten sterben in den Sümpfen Leute durch die Horden und niemand war jemals in seinem Heiligtum!‘
    ‚Doch. Der Meister und Morion.‘ Koron war ganz ruhig. ‚Sie waren dort, bevor Noi-rhom zum Godemorderen wurde. Und, dass sie ihn töten wollen, …‘ Er zuckte die Schultern, ‚… das weiß ich. Der Meister hat es uns gesagt.‘
    Maelgwn runzelte die Stirn, ‚Du nennst ihn Meister?‘
    ‚Ja, klar. Ich lerne von ihm, also ist er der Meister.‘
    Maelgwn war sprachlos. War das sein Ernst? Einen wildfremden Kerl Meister zu nennen? Einen Mörder, der kaltblütig Leute erschlug und erdrosselte?
    ‚Wie war das mit dir und Gariar?‘ fragte Koron ganz nebenbei. Er hatte den Dolch wieder aufgenommen und malte weiter Formen in die Luft.
    Dieser bauernschlaue Mistkerl!
    ‚Ich habe ihn Magister genannt.‘ knirschte Maelgwn, ‚Zumindest solange ich in der Lehre war.‘
    ‚Und als Zimmermann habe ich meinen Meister, Meister genannt.‘ er nickte ihm zu, ‚Gut, dass wir das geklärt haben.‘
    ‚Und das soll alles sein? Du weißt Bescheid, was ihr Ziel ist und das ist einfach so okay für dich? Was, wenn du dabei stirbst?‘
    ‚Hörst du mir eigentlich manchmal zu, Mael?‘
    Korons Stimme klang hart. Er hatte den Dolch wieder sinken lassen und sah Maelgwn nun direkt an.
    ‚Was meinst du?‘ stotterte Maelgwn.
    ‚Ich habe dir erzählt, dass es mich in die Fremde zieht. Dass ich ein Soldbursche sein, die Welt kennenlernen möchte und mich selbst. Ich will mehr sein, als Koron der Zimmermann und ich will mehr sehen, als das alte, kalte Sorengard.‘
    Er lächelte Maelgwn freundlich an, doch seine Augen glitzerten hart.
    ‚Stell dir vor: Wenn man so etwas tun möchte, dann ist man ohne einen Lehrmeister und ohne Anleitung viel schneller tot. Und doch wäre ich gegangen. Außerdem hätte ich auch für dich gegen Arek gekämpft! Auch nicht gerade sicher, oder?‘ Er schnaubte belustigt, ‚Sie haben ein Ziel? Sehr gut! Ich nicht! Zu allem Überfluss wäre es nobel, den Nekromantenkönig zu töten. Es wäre eine gute Tat, eine Heldentat!‘
    Sein Blick wurde weicher und Maelgwn wappnete sich innerlich.
    ‚Du warst in deiner Bibliothek. Hast deine Lehre gemacht. Und dann hattest du mehr als genug eigene Probleme mit dem Antiquariat und den Schulden …‘ er schnitt eine Grimasse, ‚Wir haben uns nicht viel gesehen und wenig miteinander gesprochen. Du weißt eigentlich gar nichts, über mein Leben. Wenn wir uns gesehen haben, ging es immer um dich und deine Sorgen. Das war in Ordnung!‘ Koron hob entschuldigend die Hände, ‚Aber jetzt geht es nicht nur um dich. Wir können jetzt beide entscheiden, wie es weiter gehen soll. Jeder für sich. Und ich, für mich, möchte bei den anderen bleiben. Abspringen kann ich später immer noch.‘
    Maelgwn sah ihn lange an. Dann drehte er sich um und ging.
    Hinter ihm nahm Koron den Dolch wieder auf, ein trauriges Lächeln auf den Lippen.

    Ziellos lief Maelgwn durch das Gewirr der Stadt und versuchte zu verstehen, wie er sich fühlte. Er war nicht wütend. Auch nicht auf Koron.
    Er fühlte, nichts. Er war leer. Und sehr müde. Die letzten Tage war so vieles passiert, dass er kaum einen Gedanken hatte fassen können. Er hatte letzte Nacht einen Mann sterben sehen und zugesehen, wie die Leiche entsorgt worden war. Weggeworfen. Wie Müll. Seine Geldsorgen hatten sich nicht in Luft aufgelöst, und sein Leben war jetzt vielleicht mehr in Gefahr denn je, aber Arek erschien ihm auf einmal nicht mehr wie die größte Bedrohung. Was Morion ihm erzählt hatte, war ungeheuerlich! Aber es war auch etwas, das Maelgwn noch nie so wirklich gefühlt hatte. Morion war entschlossen! Es war ein Plan, wider besseres Wissen. Selbstmord! Aber es war eine bewusste Entscheidung. Es war nichts, das Morion oder Kolja einfach passieren würde – Egal, wie es ausging. Sie waren keine Figuren, die jemand anderes setzte in einem Spiel, dass nur der Spieler verstand. Doch genau so hatte er, Maelgwn, sich gefühlt. Schon immer.
    Den Kopf zwischen den Schultern bog er wahllos ab. Bloß nicht stehen bleiben! Bleib in Bewegung, nicht nur mit den Füßen. Halt die Gedanken in Bewegung!
    Was war mit seinem eigenen Leben? Er war die meiste Zeit seines Lebens Umständen ausgeliefert gewesen. Nicht, dass diese Umstände immer schlecht für ihn gewesen wären, gestand er sich ein, aber dennoch. Seine Eltern waren fort. Er war ein Waisenkind gewesen, aber er erinnerte sich nicht daran, auf der Straße gelebt zu haben. Früh hatte man ihn im Kloster aufgenommen und dort unterrichtet. Dann hatte Gariar ihn zu sich genommen und ihn gelehrt.
    Nach einem schmalen Durchgang am Ende einer kleinen Gasse schlüpfte er wieder auf eine größere Straße, ging auf in der Menge und hob kaum den Blick, um sich zu orientieren.
    Er hatte das mit Gariar nie entschieden, denn es hatte sich richtig angefühlt. Zu guter Letzt war sein Lehrer gestorben und er war zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Wie das geendet wäre, hatte er in seinen Träumen gesehen. Dort hatte er bereits bis zu den Knien im salzigen, kristallinen Matsch der Salzfelder gestanden, sommers wie winters, mit aufgeplatzter Haut und entzündeten Gelenken. Er hatte sich dort sterben sehen, die sengende Hitze der Sonne, die seinen Rücken verbrannte. Oder die beissende Kälte des Winters, die seine Beine und alles andere blau anlaufen ließ, bis ihn die Kräfte verließen und er starb.
    Er war jetzt vogelfrei. Ein flüchtiger Schuldner aber, wie offiziell war seine Schuld überhaupt? Gab es ein Schriftstück dazu in der Amtsstube des Stadtvogts? Er wusste, dass es solche Schriftstücke gab, dass es sie geben musste für eine Verurteilung von Amtes wegen. Er konnte sich immer noch Arek ausliefern, aber er bezweifelt, dass seine Schuld öffentlich registriert war. Und was würde er am Ende damit erreichen? Dem Recht Genüge tun?
    Er hatte Katra kennengelernt und gehört, welchem Geschäft Arek tatsächlich nachging. Konnte er immer noch annehmen, dass es „Recht“ wäre, sich diesem Mann zu beugen, dem er in die Falle gegangen war?
    Sollte er sich nicht dagegen auflehnen? Auch, wenn ihn gerade das vor der Obrigkeit Sorengards und ganz Isnirs zum Verbrecher machte? Arek war ein angesehener Bürger der Stadt, er wusste das. Die dunklen Seiten des Mannes war weniger bekannt, oder wurden geflissentlich übersehen. Sollte er seine Rolle in diesem Spiel weiterspielen? Der Einsatz war sein Leben, und gewinnen war für jemanden wie ihn nicht vorgesehen. Sollte er?
    Er blieb stehen. Der Knoten, den er in seinem Kopf gespürt hatte, war verschwunden. Ich werde mich keinem Unrecht beugen, dachte er bei sich. Wenn sie ihn wollten, dann mussten sie ihn holen! Auch wenn das Ergebnis das Gleiche wäre, der Weg war es, der zählte.
    Er blickte auf und sah vor sich eine leere Straße, eine Mauer und die Dächer der Klostergebäude. Und das Haupttor, dass sich gerade öffnete. Maelgwn hörte Hufe auf Stein, er sah Pferde, Reiter. Er sah berobte Männer mit den Schärpen der Inquisition.

  • Maelgwn IV

    Er befühlte sein blutendes Knie und versuchte seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Mehr fallend als rennend hatte er sich von der Straße in eine Seitengasse gestürzt, und er war sich sicher, dass man ihn gesehen hatte.
    ‚Dort vorne, rechts, hinter dem Fass, in einer Gasse, hält sich ein Mann verborgen.‘
    Die ruhige, kalte Stimme war für jeden klar zu verstehen. Auch für Maelgwn.
    ‚Ja, Hochinquisitor!‘
    Er hörte dumpfe Schläge, als mehrere Reiter aus den Sätteln sprangen und sich raschelnd über das Pflaster bewegten.
    Erschreckt sprang Maelgwn auf und sah sich gehetzt um! Die Gasse hinunter, das war der einzige Weg! Gerade wollte er losrennen, da packte ihn eine Hand am Fußgelenk und er strauchelte.
    Voller Schreck starrte er an seinem Bein entlang und sah einen Schatten in einem Kellerabgang. Das Weiß von Augen war im Dunkeln des Abganges nur gerade so zu erkennen. Undeutlich erkannte er eine Gestalt in den Schatten.
    ‚Schnell!‘ hörte Maelgwn ein Zischen und da die Geräusche der genagelten Stiefel den Eingang zur Gasse fast erreicht hatten, kroch er zurück und ließ sich in den Kellerabgang fallen.
    Der Aufschlag war hart, der Keller tiefer als erwartet. Ein Grunzen ertönte. Maelgwn spürte Bewegung unter sich und wurde gewahr, dass er auf einer kleinen menschlichen Gestalt lag.
    Er rollte sich zur Seite und richtete sich auf ein Knie auf. Es war stock dunkel. Er sah nichts.
    ‚Wo soll er sein?‘ hörte Maelgwn eine leise Stimme in der Gasse über ihm und einen lauteren Ruf: ‚Hochinquisitor, hier ist niemand!‘
    Maelgwn konnte die Antwort nicht hören, doch es musste eine gegeben haben, denn der Mann verlangte jetzt laut nach einer Fackel. Es war Tag. Eine Fackel würde auf sich warten lassen. Maelgwn starrte ängstlich auf die schmuddelige Luke, durch die er gerade eben gestürzt war.
    Wieder zerrte eine Hand an ihm und er konnte diesmal erkennen, dass sie zu einem kleinen Jungen gehörte, keine zehn Jahre alt, der ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht tiefer in den Keller zog.
    Maelgwn verkniffen sich die Fragen. Er folgte dem Jungen tiefer in den Keller, wo das Licht noch weniger wurde.
    Sie gelangten an eine dunkle Fläche an einer Wand, eingefasst in dunkle Ziegelsteine, und es dauerte eine Weile bis er verstand, dass er auf einen Durchbruch in einen anderen Kellerraum starrte. An der Kellerluke, hinter ihnen, scharrten Stiefel an einer Wand. Der Mann hatte wohl doch keine Geduld, auf eine Fackel zu warten. Er, oder sein Oberer.
    Eine grunzende Stimme echote durch das feuchte Gemäuer: ‚Macht schneller!‘
    ‚Wo soll er denn hin?‘ das war eine andere Stimme, ‚Es ist ein verdammter Keller! Wir könnten einfach hier warten bis er Hunger bekommt und rauskommt, was denkt denn ihr?‘
    Die Stimme kam Maelgwn vage bekannt vor und vor seinem inneren Auge sah er Gerhard, den Wachmann von seinem abendlichen Besuch im Kloster.
    ‚Sie werden entkommen!‘ blaffte der Erste zurück, ‚Der Kerl hat Hilfe!‘
    Als Maelgwn sich hinter dem Jungen durch den Durchbruch duckte und sie sich durch weitere Kellerräume schlängelten, verklangen die Stimmen hinter ihnen.
    ‚Wer bist du?‘ flüsterte Maelgwn, doch der vor ihm laufende Junge bedeutete ihm ruhig zu sein und kauerte sich hin. Schritte und das Gemurmel von Stimmen erklangen hinter ihnen. Man hatte die Jagd noch nicht aufgegeben.
    Es war jetzt so dunkel, das Maelgwn kaum drei Schritte weit sehen konnte. Hin und wieder fiel ein diffuser Lichtstrahl durch eine Ritze im Boden über ihnen, oder durch einen Lichtschacht, aber dieses Licht war schwach, denn draußen war es bewölkt gewesen.
    Sie erreichten einen weiteren Durchbruch, dieser so schmal, dass Maelgwn ausatmen musste, um hindurch zu passen. Erst jetzt schien sich sein Führer ein wenig zu entspannen.
    Dann ertönte ein Poltern und das Krachen von fallenden Steinen – Jemand schlug die Wand ein! – und sie huschten weiter und immer weiter.
    Schmutzig und zerschrammt, das Gesicht voller Spinnenweben und mit vom Staub brennenden Augen erreichten sie eine Treppe und Maelgwns Herz machte einen Satz. Zwei Gestalten kauerten dort. Erst als sie sich aufrichteten wurde ihm bewusst, dass es Kinder waren.
    ‚Wer ists?‘, fragte eines der beiden, ein Junge, kaum älter als sein Führer. Der Kleine trug ein rostiges Messer lässig in der Hand, aber seine Schultern zeigten Anspannung. Dann trat das Mädchen neben ihm nach vorne.
    ‚Qirk!‘
    Sie hielt inne und lauschte.
    ‚Ist euch jemand gefolgt?‘
    ‚Ja!‘, die Stimme seines jungen Führers war kratzig und rau vor Schmerzen, ‚Aber wir sin‘ sie losgeworden!‘
    ‚Bist du verletzt?‘ Das Mädchen riss die Augen auf. Sie streifte Maelgwn mit ihrem Blick und sah dann wieder Qirk an, der schimpfte:
    ‚Der da ist auf mich draufgefallen!“
    Bevor sie weitersprechen konnten, fiel ein Schatten den Treppenaufgang hinunter. Qirk, und die beiden wachestehenden Kinder zogen die Köpfe zwischen die Schultern.
    ‚Du solltest ihn doch nur beobachten, Qirk!‘
    Sein kleiner Retter und die Wachestehenden entspannten sich.
    ‚Es ging nicht anders, Tromme!‘ verteidigte sich der Kleine, ‚Der Inquisitor war da und hätte ihn fast geschnappt!‘
    ‚Der Inquisitor? Was hat der da mit dem Orden zu schaffen?‘
    Niemand antwortete, und auch Maelgwn hielt vorsichtshalber den Mund.
    ‚Bring ihn mal hoch. Bringt ja alles nix!‘ sagte Tromme, und Qirk bedeutete Maelgwn, voranzugehen. Hinaus aus den Kellern.

    Es hatte noch nicht begonnen zu dämmern, als der Straßenjunge Qirk Maelgwn in den Keller am Kloster gezogen hatte, aber nun war es dunkel. Überrascht sah Maelgwn sich in der Dunkelheit um und hatte Schwierigkeiten, nicht alle paar Schritte zu stolpern. Mit staksenden Schritten bewegten sie sich durch eine wilde Ansammlung von notdürftigen Zelten, Unrat und Müll. Es gab keinen erkennbaren Weg. Und es stank, trotz der Kälte. Im Sommer musste es hier unerträglich sein. Er konnte andere Personen hören, vermutlich ebenfalls Kinder, aber er sah niemanden. Husten und leises Schluchzen begleitete sie auf ihrem Weg.
    Den beiden Straßenjungen bereiteten die Umstände und die Dunkelheit keinerlei Schwierigkeiten. Wie lange lebten sie schon hier? So jung wie sie waren, fast ihr ganzes Leben? Sie befanden sich in einem großen Innenhof, umschlossen von Gebäuden, wobei die meisten der Fenster, die Maelgwn sehen konnte, dunkel waren. Bloß ein einzelnes Fenster neben einer Tür, am Kopfe einer kurzen Treppe, war blass erleuchtet.
    Sie erreichten ein etwas größeres Zelt und der ältere Junge, Tromme, duckte sich durch den Eingang. Nirgends brannte ein Feuer und es war furchtbar kalt, jetzt, wo die Sonne untergegangen war.
    Im Zelt war es noch dunkler. Aber etwas wärmer.
    Tromme nahm sich eine schmutzige Decke, die auf einem kleinen, schiefen Holzkistchen gelegen hatte, wickelte sie um seine Schultern und setzte sich auf dasselbe Kästchen. Selbst in der Dunkelheit konnte Maelgwn erkennen, dass der Junge ausgezehrt und krank aussah. Als niemand etwas sagte, hielt es Maelgwn nicht mehr aus: ‚Warum habt ihr mir geholfen?‘
    Er spürte Augen auf sich ruhen. Viele Augen.
    Er hatte angenommen, dass er hier sicher war. Aber war er das wirklich?
    Rascheln um ihn herum verriet die Unruhe der Anwesenden, wobei Maelgwn unmöglich sagen konnte, wie viele es waren und er schluckte.
    Tromme ließ sich Zeit.
    ‚Das …‘ hob der Angesprochene heiser an, ‚… ist eine gute Frage. Ein paar von uns glauben, dass es einen Sinn gibt.‘ dabei sah er Qirk an, der zwischen ihnen stand, ‚Andere glauben das nicht.‘
    Es kehrte wieder Stille ein und Maelgwn wartete, mit angehaltenem Atem.
    ‚Wegen Orin und Bakke …‘ meldete sich eine Mädchenstimme und jemand anderes, ein Junge, der Stimme nach, fiel ihr ins Wort: ‚Niemand sonst wehrt sich gegen Arek!‘ Ein Stimmengewirr hob an.
    ‚Ruhe!‘, zischte Tromme und im Zelt kehrte wieder Stille ein. ‚Nicht alle durcheinander.‘
    Der große Junge, offenbar so etwas wie ein Sprecher der Straßenkinder, vielleicht auch ihr Anführer, seufzte und wurde dann von einem Hustenanfall geschüttelt.
    ‚Wer sind Orin und Bakke?‘ fragte Maelgwn und um ihn herum erhob sich erneut Stimmengewirr, bis Tromme die anderen Kinder wieder beruhigte.
    ‚Orin und Bakke. Die Hundsfötte waren Areks Lieblingsschläger. Gut, dass du sie getötet hast!‘
    ‚Und Don auch! Das Arschloch, das elende!‘, piepste eine Stimme.
    ‚Ruhig, Mia!‘ sagte Tromme, doch seine Stimme klang milde.
    ‚Ich habe niemanden getötet.‘ hauchte Maelgwn, ‚Und diesen Don hat Kolja getötet. Die ersten zwei, Orin und Bakke? Die habe ich ein paar mal gesehen, aber die Namen kannte ich nicht!‘, er sah sich unsicher um, ‚Ich habe erzählt bekommen, dass Kolja auch die getötet hat.‘
    Wieder brandeten Stimmen auf und er runzelte irritiert die Stirn. Die Stimmlagen waren alle so hoch! ‚Also hätten wir lieber diesen Kolja retten sollen?‘ Tromme klang ernst.
    ‚Das kommt wohl drauf an, was ihr erwartet.‘ Maelgwn war auf der Hut, ‚Aber Kolja braucht keine Rettung. Von niemandem.‘
    Im Zelt war es jetzt sehr still. Hin und wieder raschelte es in der Dunkelheit, aber sonst hörte er nichts.
    ‚So jemanden brauchen wir.‘ sagte Tromme leise, ‚Genau so jemanden.‘
    ‚Aber wofür?‘
    Wieder hustete Tromme, lang und trocken. Mehrere Kinder husteten jetzt ebenfalls. Als hätten sie es zurückgehalten, um die Stille nicht zu stören.
    ‚Arek muss weg. Es sterben zu viele Kinder.‘
    Maelgwn fröstelte.